»Ich kann dich nicht allein nach Mempi lassen.«
»Das ist kein Argument«, begehrte ich auf.
»Es ist das beste, das ich habe: Ich verbiete es dir!«
In jener Nacht schlief ich nicht in meinem Bett. Nach unserem Streit hatte ich das Zelt verlassen und saß stundenlang am Ufer des Hapi.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Satamun sich still neben mich setzte. Ich wartete eine Weile, was sie mir sagen würde, doch sie schwieg.
»Schickt dich mein Vater, um mich zur Vernunft zu bringen?«
»Er hat mir von eurer Auseinandersetzung erzählt, und ich habe selbst entschieden zu kommen. Er ist wütend und enttäuscht.«
» Er ist wütend und enttäuscht?«, fragte ich ungläubig.
»Ich kann dich verstehen, Nefrit. Ich würde auch gern fortgehen«, gestand sie.
Ich versuchte, im Mondlicht ihr Gesicht zu sehen. »Warum tust du es nicht?«
»Weil dein Vater mich hier braucht. Und dich braucht er noch mehr: Er kann und will nicht auf dich verzichten. Du bist seine rechte Hand auf der Baustelle. Ohne dich wäre er nicht Königlicher Bauleiter.«
»Ein Grund mehr, mir seine Dankbarkeit zu zeigen und mich nach Mempi gehen zu lassen«, konterte ich.
»Dein Vater glaubt, dass er hier mehr für dich tun kann. Er hat dir verantwortungsvolle Aufgaben übertragen. Kamose ist der unbeschränkte Herr der Pyramidenbaustelle: Seine einzigen Vorgesetzten sind Prinz Nefermaat und der König. Was willst du mehr?«
Verstand Satamun, warum ich gehen wollte? »Ich will lernen.«
»Du hast doch schon so viel gelernt, Nefrit.«
»Ich will Wissen erwerben, das mir die Macht über mein eigenes Schicksal gibt. Ich will meinen eigenen Weg gehen. Und nicht in Kamoses Spuren laufen.»
Vier Monde später bat die Bäckerin Satamun um ein Gespräch beim Bauleiter Kamose. Sie sah traurig aus.
»Was ist denn, Satamun?«
»Ich will es deinem Vater zuerst sagen.«
» Was willst du ihm sagen?«
»Dass ich fortgehe.«
Satamun teilte meinem Vater mit, dass sie sich entschieden habe, fortan ihre Brote für den König zu backen. Sie könnte in der Bäckerei der Residenz in Pihuni arbeiten. Ich konnte nicht hören, ob mein Vater überhaupt etwas dazu sagte. Die Unterredung im Zelt dauerte nicht lange. Schon bald erschien Satamun und ging mit Tränen in den Augen zurück zur Bäckerei.
Ich betrat das Zelt, in dem mein Vater mit versteinerter Miene in Schreiberposition auf seinem Kissen saß. Mit leerem Blick starrte er auf den Tisch vor sich.
»Vater, die Abordnung der Steinbrucharbeiter kommt gleich wegen der Erhöhung der Bezahlung. Soll ich ihnen sagen, dass sie später wiederkommen sollen?«
Er besann sich und sah mich an. »Nein, nein. Ich werde sie empfangen.«
»Geht es dir gut, Vater?«, fragte ich besorgt.
»Ich bin ... müde, sehr müde.«
»Das hat nicht zufällig mit dem Besuch von Satamun eben zu tun?«
Es dauerte lange, bis mein Vater die richtigen Worte gefunden hatte. »Satamun hat mir erklärt, dass sie … mich verlassen wird.«
»Dich oder die Baustelle?«, fragte ich.
»Sie hat Arbeit im Palast gefunden.«
»Liebst du sie?«
»Nach dem Tod deiner Mutter … Vielleicht habe ich mich zu sehr an Satamun gewöhnt. Deshalb fällt es mir jetzt so schwer, sie gehen zu lassen.«
Ich beschloss, ihm noch nicht zu sagen, dass ich ihn in wenigen Monden verlassen würde, um meinen Platz in der Tempelschule in Mempi anzutreten. Ich hatte noch Zeit, um die unvermeidliche Diskussion über meine persönlichen Lebensziele wieder aufzunehmen.
Obwohl mein Vater erst vierunddreißig Jahre alt war, sah er aus wie ein alter Mann: Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Satamuns Aufbruch hatte ihn verbittert. In den Monden nach ihrem Weggang gönnte keiner von uns dem anderen ein freundliches Wort oder eine liebevolle Geste.
Mein Vater nannte mich undankbar. Er war der Meinung, dass er mir als Königlicher Bauleiter das Leben bieten konnte, das für mich erstrebenswert sein musste. Ich wollte selbst entscheiden, was gut für mich war und was nicht. Er konnte nicht verstehen, dass die Verwirklichung seines Lebenszieles – die Vollendung des Grabmals – mir nichts bedeutete.
Wir sprachen nur noch selten miteinander. Wir hatten uns wenig zu sagen, was über den Bau der Pyramide oder die Organisation der Baustelle hinausging. Die versteinerte Gleichförmigkeit der Tage und seine Verständnislosigkeit ertrug ich mit eiserner Willenskraft.
Sekhem kannte ich schon einige Jahre. Er war dreiundzwanzig und seit sieben Monden Kommandant der Lagerpolizei. Ich sah ihn oft, weil er dem Königlichen Bauleiter regelmäßig Bericht über die Sicherheit der Baustelle erstattete. In den letzten Wochen war er während seiner Runde durch das Lager oft vorbeigekommen, um sich mit mir zu unterhalten.
»Ich will mit dem Bauleiter über einige Diebstähle in der letzten Zeit sprechen«, bat er mich.
»Du kannst heute Nachmittag kommen.«
»Ich werde da sein.« Sekhem machte noch keine Anstalten zu gehen.
»Ist noch etwas?«, fragte ich ihn unvorsichtigerweise.
»Du bist heute sehr hübsch, Nefrit«, sagte er.
Ich war geschmeichelt, denn das hatte noch niemand zu mir gesagt. Ich hatte bemerkt, dass mein Körper sich in den letzten Monden verändert hatte, aber ich hatte dem keine Bedeutung zugemessen.
»Wie alt bist du? Fünfzehn oder sechzehn?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Sah ich so viel älter aus als beinahe vierzehn?
Durch mein Schweigen ließ ich ihn in seinem Glauben.
»Hast du einen Geliebten?«
Ich senkte den Blick und errötete unwillkürlich.
»Bitte entschuldige, die Frage war wohl etwas zu direkt.«
Fand er das wirklich? Ich sah ihm in die Augen, und er lächelte. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte. »Hast du Lust, heute Abend mit mir am Fluss spazieren zu gehen?«
Bei Sonnenuntergang erschien er vor dem Zelt, um mich abzuholen.
Sekhems Gesicht hatte die dunkle Hautfarbe der Menschen aus dem Süden. Er trug sein Haar offen. Seinen nackten Oberkörper hatte er mit duftendem Öl eingerieben, sein Leinenschurz war makellos gefaltet, und er hatte sogar Sandalen angezogen. Hatte er sich wirklich für mich so herausgeputzt, nur um mit mir in der Dunkelheit am Flussufer entlangzugehen?
Wir gingen hinunter zum Fluss, und er erzählte mir von seiner Familie, die in Weset lebte. Sein Vater sei wie er Soldat und der Kommandant der Stadtfestung von Weset. Seine Mutter habe sechs Kindern das Leben geschenkt. Ich fragte ihn nach seinen Geschwistern, da ich mir nicht vorstellen konnte, wie es wäre, Brüder und Schwestern zu haben. Am Ufer nahm er meine Hand, und wir gingen stromabwärts.
Nach einer Weile blieb er stehen, umarmte mich und strich mit seiner Nase zärtlich über mein Gesicht. Ich war erregt von seiner Nähe und seinen zärtlichen Liebkosungen. Sekhem war überrascht, als ich ihn auf die Lippen küsste.
»Hast du wirklich keinen Geliebten?«, fragte er atemlos.
»Nein. Küss mich, Sekhem!«, forderte ich.
Er ließ sich auf den Boden sinken und zog mich zu sich herunter.
Ich weiß nicht, was mich trieb. Ich liebte Sekhem nicht. Aber ich hasste meinen Vater, und wenn ich mich auf Sekhem einließ, würde ihm das wehtun.
Am nächsten Abend holte mich Sekhem wieder kurz nach Sonnenuntergang ab. Wir verschwanden im Schilfdickicht des Hapi und liebten uns.
Sekhems Liebe war ein völlig neues Gefühl für mich. Niemand hatte sich in der Vergangenheit so mit mir beschäftigt, wie er es mit Hingabe tat. Erst in den frühen Morgenstunden brachte er mich zum Zelt zurück. Den ganzen nächsten Tag über war ich so müde, dass es sogar meinem Vater auffiel.
»Wo warst du letzte Nacht?«, fragte er mich.
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