1 ...6 7 8 10 11 12 ...41 beiden Sprechenden entgegen; es war der vertraute Sklave Agamemnons und Klytämnestras, den
Menelaos mit dem Briefe ergriffen hatte. »Höre«, sprach er leise, doch atemlos, »was dir dein treuer
Diener zu vertrauen hat: deine Tochter will der Vater eigenhändig töten!« Und nun erfuhr die
zitternde Mutter das ganze Geheimnis aus dem Munde des getreuen Sklaven. Klytämnestra warf sich
dem jungen Sohne des Peleus zu Füßen, und seine Knie wie eine Schutzflehende umfassend, rief sie:
»Ich erröte nicht, so vor dir im Staube zu liegen, ich, die Sterbliche, vor dem Göttersprößling. Weiche,
Stolz, vor der Mutterpflicht! Du aber, o Sohn der Göttin, rette mich und mein Kind von der
Verzweiflung! Dir, als ihrem Gatten, habe ich sie bekränzt hierhergeführt; zwar eitlerweise, dennoch
heißest du mir meines Mädchens Bräutigam! Bei allem, was dir teuer ist, bei deiner göttlichen
Mutter beschwöre ich dich, hilf sie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten
könnte, als deine Knie! Du hast Agamemnons grausames Unterfangen gehört; du siehest, wie ich, ein
wehrloses Weib, in die Mitte eines gewalttätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm
aus, so ist uns geholfen!«
Achill hob die vor ihm liegende Königin voll Ehrfurcht vom Boden und sprach: »Sei getrost, Fürstin!
Ich bin in eines frommen, hilfreichen Mannes Haus aufgezogen worden; am Herde Chirons habe ich
schlichte, redliche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne, wenn sie mich zum
Ruhme führen; aber schnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich schützen, soweit es
den Armen eines Jünglings möglich ist, und nimmermehr soll deine Tochter, die einmal mein genannt
wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich selbst erschiene mir nicht unbefleckt, wenn meine
erlogene Brautschaft dieses Kind verdürbe, ich käme mir wie der feigste Wicht im Heere und wie der
Sohn eines Missetäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vorwand eines Kindesmordes
dienen könnte.« »Ist das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürst«, rief Klytämnestra, außer sich
vor Freude, »oder erwartest du vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Knie als
Schutzflehende umschlingen soll? Zwar ist es nicht jungfräulich; aber wenn es dir gefällt, so wird sie
züchtiglich nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.« »Nein«, entgegnete ihr Achill, »führe dein
Mädchen nicht vor mein Angesicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn
ein so großes Heer, das keine Heimatsorgen hat, liebt faules Geschwätz; aber vertraue mir, ich habe
nie gelogen. Möge ich selbst sterben, wenn ich dein Kind nicht rette.« Mit dieser Versicherung
verließ der Sohn des Peleus Iphigenias Mutter, die jetzt mit unverhehltem Abscheu vor ihren Gatten
Agamemnon trat. Dieser, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheimnis verraten war, rief ihr die
zweideutigen Worte entgegen: »Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und übergib es dem Vater, denn
Mehl und Wasser und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfest fallen soll, alles ist
schon bereit.« »Vortrefflich«, rief Klytämnestra, und ihr Auge funkelte, »tritt selbst aus unserem
Zelte hervor, o Tochter, du kennst ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen
Bruder Orestes mit heraus!« Und als die Tochter erschienen war, fuhr sie fort: »Siehe, Vater, hier
steht sie dir zu Gehorsam da, laß auch mich zuvor ein Wort an dich richten: sage mir ohne
Winkelzüge, willst du meine und deine Tochter umbringen?« Lange stand der Feldherr lautlos da,
endlich rief er in Verzweiflung aus: »O mein Schicksal, mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein
Geheimnis, alles ist verloren!« »So höre mich denn«, sprach Klytämnestra weiter; »ich will mein
ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat unsre Ehe begonnen; du hast mich
gewaltsam entführt, hast meinen früheren Gatten erschlagen, mein Kind mir von der Brust
genommen und getötet. Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Rossen mit
Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareos war es, der dich, den Flehenden, rettete,
und so wurdest du aufs neue mein Gemahl. Du selbst wirst es bezeugen, daß ich tadellos in diesem
Ehebunde war, deine Wonne im Hause und dein Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe
ich dir geboren, und nun willst du des ältesten Kindes mich berauben; und fragt man dich, warum, so
antwortest du: damit dem Menelaos seine Ehebrecherin wieder zuteil werde! O zwinge mich nicht,
bei den Göttern, schlecht gegen dich zu werden, und sei nicht schlecht gegen mich! Du willst deine
Tochter opfern? Welch Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen?
Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von Hause wegziehst? Oder soll ich etwa
Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es täte!
Warum soll es denn dein eigenes Kind sein, das als Opfer fällt? Warum sprichst du nicht zu den
Griechen: ›Wenn ihr vor Troja schiffen wollet, so werfet das Los darüber, wessen Tochter sterben
soll.‹ Nun soll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, dessen Sache ausgefochten
wird, Menelaos, seiner Tochter Hermione sich ohne Sorgen erfreuen darf, während seine treulose
Gattin dieses Kind in Spartas Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges ungerechtes Wort
gesagt habe. Ward aber von mir die Wahrheit gesprochen, o so töte doch deine und meine Tochter
nicht; tu es nicht, besinne dich!«
Jetzt warf sich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und sprach mit erstickter Stimme: »Besäße
ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felsen lenken könnte, so wollte ich mich mit
beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle meine Künste nur Tränen, und anstatt
des Ölzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe. Verdirb mich nicht frühzeitig, Vater; lieblich
ist das Licht zu schauen, nötige mich nicht, das zu sehen, was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner
Liebkosungen, mit welchen du mich als Kind auf deinem Vaterschoße gewiegt hast! Noch weiß ich
alle deine Reden: wie du hofftest, mich in eines edlen Mannes Wohnung einzuführen, mich in
Wohlergehen und Blüte zu schauen, wenn du heimgekehrt wärest. Du aber hast das alles vergessen;
du willst mich töten! O tu es nicht, bei dieser Mutter beschwöre ich dich, die mich mit Schmerzen
geboren hat und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen mich Helena und Paris
an? Warum muß ich sterben, weil er nach Griechenland gekommen ist? O blicke mich an; gönne mir
dein Auge, deinen Kuß, daß ich doch sterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich mein
Wort nicht mehr zu rühren vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder, an, Vater; schweigend fleht
er für mich. Er ist noch ein Küchlein; ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen und
erbarme dich meiner. Das Licht zu schauen ist für Sterbliche doch das Holdseligste! Elend leben ist
besser als der allerschönste Tod.«
Aber Agamemnons Entschluß war gefaßt, er stand unerbittlich wie ein Fels und sprach: »Wo ich
Mitleid fühlen darf, da fühle ich Mitleid; denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja sonst ein Rasender.
Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus, aber ich muß. Ihr sehet ja, welch
ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer mich umstehen; diese alle finden die
Fahrt nach Troja nicht, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem
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