gebärdetest, wie gnädig du jedem Danaer die Rechte schütteltest? Deine Tür war stets
unverschlossen; jedem, auch dem Untersten des Volkes, schenktest du Zutritt, und alle diese
Geschmeidigkeit bezweckte nichts anderes, als dir jene Würde zu verschaffen. Aber als du nun Herr
geworden warest, da war alles bald anders; da warst du nicht mehr deiner alten Freunde Freund wie
vorher; zu Hause warst du schwer zu treffen, draußen bei dem Heere zeigtest du dich nur selten. So
sollte es ein Ehrenmann nicht machen; er sollte am meisten dann sich unveränderlich gegen seine
Freunde zeigen, wenn er ihnen am meisten nützen kann! Du hingegen, wie hast du dich betragen?
Als du mit dem Griechenheere nach Aulis gekommen warest und, vom göttlichen Geschicke
heimgesucht, vergebens auf Fahrwind hofftest und nun im Heere rings der Ruf sich hören ließ: ›Laßt
uns davonsegeln und nicht vergebens in Aulis uns abmühen!‹, wie zerstört und trostlos blickte da
dein Auge umher und wie wußtest du mitsamt deinen Schiffen keinen Rat! Damals beriefst du mich
und verlangtest nach einem Auswege, deine schöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als
hierauf der Seher Kalchas befahl, anstatt eines Opfers der Artemis deine Tochter darzubringen, da
gelobtest du nach kurzem Zuspruche freiwillig deines Kindes Opferung und schicktest Botschaft an
dein Weib Klytämnestra, deine Tochter, wie du angabst, als Braut des Achill, herzusenden. Und jetzt,
o Schande, beugst du doch wieder aus und verfassest eine neue Schrift, durch welche du erklärst, des
Kindes Mörder nicht werden zu können? Aber freilich, tausend andern ist es schon so gegangen wie
dir. Rastlos, bis sie ans Ruder gelangt sind, treten sie später schimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der
nicht Einsicht und Verstand hat und dieselben auch in den schwierigsten Lagen des Lebens nicht
verliert!«
Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu
beruhigen. »Was schnaubst du so schrecklich«, entgegnete er ihm, »was ist dein Auge wie mit Blut
unterlaufen? Wer beleidigt dich denn? Was vermissest du denn? Deine liebenswürdige Gattin
Helena? Ich kann sie dir nicht wieder verschaffen! Warum hast du deines Eigentums nicht besser
wahrgenommen? Bin ich denn töricht, wenn ich einen Mißgriff durch Besinnung wiedergutgemacht
habe? Viel eher handelst du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falschen Weibes
trachtest, anstatt daß du froh sein solltest, ihrer losgeworden zu sein. Nein, nimmermehr entschließe
ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüten. Weit besser stände dir selbst die gerechte Züchtigung
deines buhlerischen Weibes an.«
So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erschien und dem Fürsten Agamemnon
die Ankunft seiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und sein kleiner Sohn Orestes auf dem
Fuße folgten. Kaum hatte der Bote sich wieder entfernt, so überließ sich Agamemnon einer so
trostlosen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaos selbst, der bei Ankunft der Botschaft
auf die Seite getreten war, jetzt sich dem Bruder wieder näherte und nach seiner rechten Hand griff.
Agamemnon reichte sie ihm wehmütig dar und sprach unter heißen Tränen: »Da hast du sie, Bruder;
der Sieg ist dein! Ich bin vernichtet!« Menelaos dagegen schwor ihm, von der alten Forderung
abstehen zu wollen; ja er ermahnte ihn selbst jetzt, sein Kind nicht zu töten, und erklärte einen guten
Bruder um Helenas willen nicht verderben und nicht verlieren zu wollen. »Bade doch dein Angesicht
nicht länger in Tränen«, rief er. »Gibt der Götterspruch mir Anteil an deiner Tochter, so wisse, daß ich
denselben ausschlage und meinen Teil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit
meiner natürlichen Gemütsart umgekehrt bin zur Bruderliebe; denn biedern Mannes Weise ist es,
der bessern Überzeugung zu folgen, sobald sie in unserm Herzen die Oberhand gewinnt!«
Agamemnon warf sich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geschick seiner Tochter beruhigt
zu sein. »Ich danke dir«, sprach er, »lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder
zusammengeführt hat. Über mich aber hat das Schicksal entschieden. Der blutige Tod der Tochter
muß vollzogen sein: das ganze Griechenland verlangt ihn; Kalchas und der schlaue Odysseus sind
einverstanden; sie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein
Töchterlein abschlachten lassen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, sie kämen und rissen uns aus
den Mauern hervor und schleiften die alte Zyklopenstadt! Deswegen beschränke dich darauf, Bruder,
wenn du in das Lager kommst, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämnestra nichts erfahre,
bis daß mein und ihr Kind dem Orakelspruch erlegen ist!«
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Gespräch der Brüder, und Menelaos entfernte sich in
trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite frostig und verlegen; die
Tochter aber umschlang den Vater mit kindlicher Zuversicht und rief. »O Vater, wie entzückt mich
dein lang entbehrtes Angesicht!« Als sie ihm hierauf näher in sein sorgenvolles Auge sah, fragte sie
zutraulich: »Warum ist dein Blick so unruhig, Vater, wenn du mich doch gerne siehst?« »Laß das,
Töchterchen«, erwiderte der Fürst mit beklommenem Herzen; »den König und den Fürsten kümmert
gar vielerlei!« »So verbanne doch diese Furchen«, sprach Iphigenia, »und schlage ein liebendes Auge
zu deiner Tochter auf! Warum ist es denn so von Tränen angefeuchtet?« »Weil uns eine lange
Trennung bevorsteht«, erwiderte der Vater. »O wie glücklich wäre ich«, rief das Mädchen, »wenn ich
deine Schiffsgefährtin sein dürfte!« »Nun, auch du wirst eine Fahrt anzutreten haben«, sagte
Agamemnon ernst, »zuvor aber opfern wir noch ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirst, liebe
Tochter!« Die letzten Worte erstickten unter Tränen, und er schickte das ahnungslose Kind in das für
sie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter
mußte der Atride seine Unwahrheit fortsetzen und die fragende, neugierige Fürstin über Geschlecht
und Verhältnisse des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem sich Agamemnon von der
Gemahlin losgemacht, begab er sich zu dem Seher Kalchas, um mit diesem das Nähere wegen des
unvermeidlichen Opfers zu verabreden.
Derweilen mußte der tückische Zufall Klytämnestra im Lager mit dem jungen Fürsten Achill, der den
Heerführer Agamemnon aufsuchte, weil seine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen
wollten, zusammenführen, und sie nahm keinen Anstand, ihn als den künftigen Eidam mit
freundlichen Worten zu begrüßen. Aber Achill trat verwundert zurück. »Von welcher Hochzeit redest
du, Fürstin?« sprach er. »Niemals habe ich um dein Kind gefreit, nie ist ein Einladungswort zur
Vermählung von deinem Gemahl Agamemnon an mich gelangt!« So begann das Truggewebe vor
Klytämnestras Augen aufgedeckt zu werden, und sie stand unentschlossen und voll Beschämung vor
Achill. Dieser aber sagte mit jugendlicher Gutmütigkeit: »Laß dich's nicht kümmern, Königin; wenn
auch jemand seinen Scherz mit dir getrieben hätte, nimm es leicht, und verzeih mir, wenn mein
Erstaunen dir wehe getan hat.« Und so wollte er mit ehrerbietigem Gruße davoneilen, den Feldherrn
aufzusuchen: da öffnete eben ein Diener das Zelt Agamemnons und rief mit verstörter Miene den
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