hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er
unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals
zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen
herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.
Nun war Io befreit, und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den
durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine
ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf
durch ihren Stich zum Wahnsinn trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel
landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Skythen, an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum
Kimmerischen Isthmos und an die Mäotische See; dann hinüber nach Asien, und endlich nach
langem, verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Ägypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, sank Io
auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp
empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Zeus. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte zu seiner
Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,
das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr beim Wasser der Unterwelt, bei dem die
Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Hera hörte während dieser Bitte
das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter
erweichen und gab dem Gemahle Vollmacht, der Mißgestalteten den menschlichen Leib
zurückzugeben. Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über
den Rücken. Da war es wunderbar anzuschauen: die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn
schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen,
Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als
die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht, in
menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk
die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit
Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie auch so nicht ganz von Heras Zorne verschont. Diese
stiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie
aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem
Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Äthiopiens
wieder, kehrte mit ihm nach Ägypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrschen. Er heiratete die
Memphis, und diese gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt. Mutter und Sohn
wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt und erhielten, sie als Isis, er als Apis,
göttliche Verehrung.
Phaëton
Auf herrlichen Säulen erbaut stand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und
glühendem Karfunkel schimmernd; den obersten Giebel umschloß blendendes Elfenbein, gedoppelte
Türen strahlten in Silberglanz, darauf in erhabener Arbeit die schönsten Wundergeschichten zu
schauen waren. In diesen Palast trat Phaëthon, der Sohn des Sonnengottes Phöbos, und verlangte
den Vater zu sprechen. Doch stellte er sich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das strahlende
Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phöbos, von Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem fürstlichen
Stuhle, der mit glänzenden Smaragden besetzt war; zu seiner Rechten und seiner Linken stand sein
Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen; der jugendliche
Lenz mit seinem Blütenkranze, der Sommer mit Ährengewinden bekränzt, weinfarben der Herbst,
der eisige Winter mit schneeweißen Haaren. Phöbos, in ihrer Mitte sitzend, wurde mit seinen
allschauenden Augen bald den Jüngling gewahr, der über so viele Wunder staunte. »Was ist der
Grund deiner Wallfahrt«, sprach er, »was führt dich in den Palast deines göttlichen Vaters, mein
Sohn?« Phaëthon antwortete: »Erlauchter Vater, man spottet mein auf Erden und beschimpft meine
Mutter Klymene. Sie sprechen, ich heuchle nur himmlische Abkunft und sei der Sohn eines dunklen
Vaters. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen
wirklichen Sprößling darstelle.« So sprach er; da legte Phöbos die Strahlen, die ihm rings das Haupt
umleuchteten, ab und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: »Deine Mutter
Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr
verleugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir ein Geschenk! Ich schwöre beim
Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sei,
soll erfüllt werden!« Phaëthon ließ den Vater kaum ausreden. »So erfülle mir denn«, sprach er,
»meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten
Sonnenwagens.«
Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Angesichte des Gottes. Drei‐, viermal schüttelte er sein
umleuchtetes Haupt und rief endlich: »O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O
dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangst ein Geschäft, dem deine
Kräfte nicht gewachsen sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du wünschest, ist ein Werk
der Unsterblichen! Ja, du erstrebest sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist.
Denn außer mir vermag keiner von ihnen auf der glutensprühenden Achse zu stehen. Der Weg, den
mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe erklimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch
frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zuoberst am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf
meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen an, und mein Haupt
droht ein Schwindel zu erfassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe und Meer und Land weit
unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz abschüssig, da bedarf es gar sicherer Lenkung. Die
Meeresgöttin Thetis selbst, die mich in ihren Fluten aufzunehmen bereit ist, pflegt alsdann zu
befürchten, ich möchte in die Tiefe geschmettert werden. Dazu bedenke, daß der Himmel sich in
beständigem Umschwunge dreht und ich diesem reißenden Kreislaufe entgegenfahren muß. Wie
vermöchtest du das, wenn ich dir auch meinen Wagen gäbe? Darum, geliebter Sohn, verlange nicht
ein so schlimmes Geschenk und bessere deinen Wunsch, solange es noch Zeit ist. Sieh mein
erschrecktes Gesicht an. O könntest du durch meine Augen in mein sorgenvolles Vaterherz
eindringen! Verlange, was du sonst willst von alle Gütern des Himmels und der Erde! Ich schwöre dir
beim Styx, du sollst es haben! ‐ Was umarmst du mich mit solchem Ungestüm?«
Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geschworen. So
nahm er denn seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, Hephaistos' herrlicher
Arbeit. Achse, Deichsel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche
schimmerten Chrysolithen und Juwelen. Während Phaëthon die herrliche Arbeit beherzt anstaunte,
tat im geröteten Osten die erwachte Morgenröte ihr Purpurtor und ihren Vorsaal, der voll Rosen ist,
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