Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß
und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder‐ und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne
zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr
Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io,
die Kuh, des Tags über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich
immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das
Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie
ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub waren ihre
Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige
Pfützen. Io vergaß oft, daß sie kein Mensch mehr war; sie wollte, Mitleiden erflehend, ihre Arme zu
Argos erheben, da ward sie erst daran erinnert, daß sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in
Worten rührende Bitten vortragen, dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß sie vor ihrer eigenen
Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Tier
verwandelt worden sei. Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihn Hera
geheißen, die durch Veränderung ihres Aufenthalts sie dem Gemahl um so gewisser zu entziehen
hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte
Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie so oft als Kind zu spielen gepflegt hatte. Da sah sie zum
ersten Mal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte,
schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst. Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe
ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht; Inachos
streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte;
Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen menschlichen Tränen.
Aber wen er liebkoste und von wem er geliebkost wurde, das ahnete der Greis nicht. Endlich kam der
Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an,
Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des
Vaters, der bald im Staube die Kunde las, daß er sein eigenes Kind vor sich habe. »Ich
Unglückseliger«, rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der
stöhnenden Tochter hing, »so muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe!
Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, solange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich
gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll
antworten! Ich Tor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und
dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde...« Argos, der grausame
Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riß Io von dem Vater hinweg und schleppte
sie fort auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt,
indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.
Zeus konnte das Leid der Inachostochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne
Hermes und befahl ihm, seine List zu brauchen und dem verhaßten Wächter das Augenlicht
auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute
und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte
er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an
sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Dort
angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll
zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Heras freute
sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder: »Wer du
auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier
ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh als hier, und du siehst, wie behaglich der
Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!« Hermes dankte dem Rufenden, stieg
hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing und sich so ernstlich
ins Gespräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die
Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohre und versuchte sein Spiel, um ihn
vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine
Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der
Schlummer in einen Teil seiner Augen einschlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern
Teile, nahm sich zusammen, und da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er
seinen Gesellen nach dem Ursprunge dieser Erfindung. »Das will ich dir gerne erzählen«, sagte
Hermes, »wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich
anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe),
mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon
lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der
Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem
Stande verharren. Endlich wurde auf seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott
Pan der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand, dringend und im stolzen
Bewußtsein seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch
unwegsam Steppen, bis sie zuletzt an das Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen
doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre
Schwestern, die Nymphen, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer sich zu erbarmen und sie zu
verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer Zögernde; aber wie
staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten
Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem, klagendem Gesäusel.
Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. »Wohl denn, verwandelte Nymphe«,
rief er mit schmerzlicher Freude, »auch so soll unsre Verbindung unauflöslich sein!« Und nun schnitt
er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs untereinander
und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade; und seitdem heißt
dieses Hirtenrohr Syrinx...«
So lautete die Erzählung des Götterboten, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt
im Auge behielt. Die Märe war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter
der Decke geborgen hatte und endlich alle die hundert Leuchten in dichtem Schlaf erloschen waren.
Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe nacheinander die
hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung. Während nun der
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