Nicht von Ungefähr hatte des Öfteren schon seine Mutter Laurentia und einige ihrer Freundinnen ins Hotelrestaurant begleitet, daher kannte er das Innenleben des Hauses schon von früheren Besuchen her. Allerdings waren diese Abendessen beinahe jedes Mal in einem Fiasko geendet, da Laurentia von Ungefähr bei jeder Gelegenheit ihren Sohn mit einer der zahlreichen Töchter ihrer Bridgepartnerinnen hatte verkuppeln wollen. Mädchen, die allesamt in keiner Weise Nichts Geschmack entsprachen. Jede einzelne von ihnen zeichnete sich durch vornehme, adlige Blässe aus, und ob sie nun vollschlank oder klapperdürr waren, roch eine jede von ihnen auf seltsame Weise nach sauer gewordener Milch, wie Nicht fand, und dieser Geruch allein war schon abschreckend genug.
Über die enorme Treppe in der Haupthalle, die sich in der Mitte noch einmal teilte und sich dann nach links, wie nach rechts wand, um schließlich auf einer kreisrunden Empore zu enden, von wo aus dann einige der Suiten für das gehobene Publikum abgingen, fand Nicht schließlich den Weg in den westlichen Flügel, wie dieser Teil des Gebäudes genannt wurde. Dort befanden sich diejenigen Zimmerfluchten, die für wohlhabende Geschäftsleute vorgesehen waren. Nicht hatte sich ohnehin gewundert, dass die kleinen Schauspieler sich Zimmer in diesem Teil des Hauses leisten konnten; zwar waren diese hier weiter hinten zwar keineswegs so horrend teuer wie diejenigen, die direkt vom Atrium abgingen, doch konnten sich einen solchen Luxus im Grunde nur zumindest Halbmillionäre leisten.
Unten in der Halle hatte ihm der Portier freundlich zugenickt; die Angestellten sahen jedem Menschen auf der Stelle an, ob er von Adel war oder nicht. Leute, die nicht hier in die heiligen Hallen hineinpassten, wurden recht schnell ausgesondert und ohne Aufsehen wieder auf die Straße gesetzt, wusste der Detektiv. Er hatte eine solche Situation einmal beobachten können bei einem der Diners der mütterlichen Bridgegesellschaft. Ganz unauffällig gekleidete Männer nahmen denjenigen zwischen breite Schultern, hakten ihn unter und geleiteten ihn durch die nächste Hintertüre, von denen es einige in dem Hause gab, nach draußen, oder schlimmer noch, in ein Hinterzimmer, wo es dem armen Kerl schlecht erginge, würde man Diebesgut bei ihm finden. Nur der Adel und diejenigen, welche dem neuen Geldadel zugerechnet wurden, wie man die schnell zu Wohlstand gekommenen Fabrikbesitzer zu titulieren pflegte, war willkommen. Der bürgerliche Rest der hauptstädtischen Bevölkerung hatte vor den Türen zu bleiben. Eine Ausnahme bildeten freilich Handwerker, die im Gebäude zu tun hatten, das Personal und die zahlreichen Huren, die sich aber erst so gegen zehn Uhr am Abend einstellten. Bei diesen jedenfalls wurde jedoch auf standesgemäße Kleidung geachtet, wobei hierbei freilich keineswegs der Berufsstand gemeint war, dem die Frauen und Mädchen angehörten.
Die Zimmernummer 206 war recht leicht zu finden, der Anführer der Hurveniks, dieser Kringskranx, hatte ihm allerdings den Weg dorthin noch einmal beschrieben. Nicht klopfte an die Tür aus edlen Hölzern und es dauerte nur Sekundenbruchteile, da wurde ihm geöffnet. Zu seinen Füßen stand einer der Winzlinge, hielt eine kräftige Schnur mit Händen gepackt, was bei dem Kleinen wirkte, als zöge er an einem wahrhaftigen Schiffstau, das andere Ende war um die Türklinke gewickelt. ‚Eine wirklich praktische Idee‘ dachte Nicht von Ungefähr und grüßte den Hurvenik förmlich.
„Von Ungefähr, mein Name. Mit wem habe ich denn die Ehre?“, fragte der Detektiv und blickte hinunter auf das kleine, possierliche Männlein. Dummerweise war er sich in keiner Weise sicher, ob er es mit einem derjenigen Hurveniks zu tun hatte, die ihn in seinen Büroräumen aufgesucht hatten. Er konnte die Zwerge einfach nicht voneinander unterscheiden, alle trugen sie die gleichen roten Mützchen, die blauen Hosen und grünen Westen, es war zum Verrücktwerden. ‚Wie kann ich eigentlich sicher sein, dass sie allesamt männlichen Geschlechts sind?‘, fragte sich der Detektiv jetzt verwirrt. Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Er stufte dieses Problem jedoch fürs Erste als zweitrangig ein.
„Fargraffel, Euer Gnaden“, erwiderte jetzt der Kleine. Nicht glaubte, den Namen schon einmal gehört zu haben.
„Gut, dann weißt du ja Bescheid“, sagte der Detektiv. „Lass aber bitte das Euer Gnaden weg! Immerhin habt ihr schließlich mich engagiert und nicht anders herum!“ Wie schon gesagt, handelte es sich bei dem Freiherrn von Ungefähr um alles andere als einen Snob, der sich mit solchen unzeitgemäßen Überbleibseln vergangener Zeiten abgab, wie Standesdünkeln. Mit dieser Auffassung befand er sich jedoch in seinen eigenen Kreisen eindeutig in der Minderzahl.
Fargraffel war derweil rückwärts gelaufen, den Strick immer noch in Händen und hatte die schwere Tür weiter geöffnet.
„Kein Problem, Meister“, sagte er daraufhin frech. Erst jetzt schwante dem Detektiv, dass dieses ‚Euer Gnaden‘ eben vielleicht mit einem sarkastischen Unterton gesprochen worden war. Allerdings gefiel Nicht nun ebensowenig mit ‚Meister‘ angesprochen zu werden.
„Nenn mich einfach Nicht“, meinte Nicht.
„Ist recht, Meister!“, erwiderte der kleine Fargraffel, und wenn sich der Detektiv nicht täuschte, so hatte sich der Hurvenik, bei diesen Worten das Grinsen nicht verbeißen können.
„Benimm dich, Fargraffel!“ Aus einem der Zimmer kam jetzt ein anderer Hurvenik über einen der dicken Teppiche angelaufen, die von den geschickten Fingern der Kinder aphalusischer Nomadenstämme gefertigt sein mussten. Beinahe versanken die Füße des Männleins im Flor des teuren Knüpfwerks. Der Befehlston, in dem es gesprochen hatte, deutete darauf hin, dass Nicht es nun wieder mit dem Chef der Theatertruppe zu tun hatte.
„Jawohl, oh Beherrscher der Ungewürzten!“, rief noch Fargraffel aus und verschwand dorthin, woher der andere Winzling gerade gekommen war.
„Entschuldigen Sie bitte, unser Fargraffel ist noch recht jung und unerfahren, man muß ihm gegenüber ein wenig Nachsicht walten lassen!“, erklärte nun Kringskranx. "Noch dazu entstammt er der Sippe der Krimpelknarze!“, fügte er dann noch rätselhafterweise hinzu. „Außerdem zitiert er permanent falsch! Beherrscher der Unwürdigen, muss es heißen, Fargraffel!“, rief er schließlich dem anderen noch hinterher, woraufhin ein Kichern aus dem angrenzenden Raum ertönte.
„Ich sag‘s ja, ein albernes und kindliches Gemüt! Aber folgen sie mir bitte an den Ort, an dem wohl die Entführung des Impresarios stattgefunden haben muss!“ Der kleine Kringskranx bewegte sich jetzt erstaunlich schnell über die Auslegeware, Nicht von Ungefähr hatte Mühe mit den kurzen Beinen des Hurveniks Schritt zu halten.
„Wir Kriminalisten sprechen in einem solchen Fall von einem Tatort“, beeilte sich Nicht von Ungefähr nun zu erwähnen. Er kam sich auf sonderbare Weise überflüssig vor.
„Interessant, interessant“, meinte Kringskranx und wandt sich einer Tür rechts vom Flur zu, zog an einem Seil, das auch hier an der Klinke verankert war und trat gegen das Holz. Die Tür ging krachend auf und schlug heftig an einem Kleiderschrank an, als ob ein wesentlich stärkeres Wesen sich auf so grobe Weise Einlass verschafft hätte.
Außer dem Schrank befand sich noch ein niedriges Tischchen, ein Sessel und ein breites, bequem wirkendes Bett im Zimmer. Auf dem Läufer vor der Schlafstätte war ein Fleck zu sehen, der allerdings kaum von vergossenem Blut rühren konnte, die Stelle wirkte wie ausgeblichen. Ansonsten glänzte der Raum vor Sauberkeit, anscheinend war gerade erst der Parkettboden frisch poliert worden. Als Nicht mit dem Finger über die Platte des Nachttischchens strich, konnte er nicht den geringsten Staubpartikel wahrnehmen. Auch schien das Bett frisch bezogen und akkurat gemacht, wie man es wohl eher von einem Soldaten erwarten würde und nicht von einem Menschen, der in einem künstlerischen Gewerbe unterwegs war.
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