in seinen Händen trug.
Sie waren waffenlos, was schadete das, sie waren ohne
Kommandanten, was tat das? Wo war nun der Hunger,
wo waren die Qualen?
Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre
Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen
Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße
brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer,
ein urewiges Meer.
Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre, in der
Asche der Mühsal erstickt waren, fingen wieder an, zu
brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot.
Sie gaben sich die Hände auf dem Marsche, sie
umarmten sich. Sie hatten nicht umsonst gelitten. Sie
wußten alle, daß die Jahre der Leiden vorbei waren, und
ihre Herzen zitterten leise.
Eine ewige Melodie erfüllte den Himmel und seine
purpurne Bläue, eine ewige Fackel brannte. Und die
Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie
entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. Und
wie göttliche Schiffe, bemannt mit den Geistern der
Freiheit, segelten große Wolken in schnellem Winde vor
ihnen her.
Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie
große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die
weite Straße ihres Ruhmes hinab.
Der Irre
Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte
ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die
große eiserne Tür auf. Er war im Vorgarten, er klinkte die
Gartenpforte auf, und er war draußen.
So, und nun sollte die Welt etwas erleben.
Er ging die Straßenbahnschienen entlang, zwischen
den niedern Häusern der Vorstadt durch. Er kam an
einem Feld vorbei und warf sich an seinem Rande in die
dicken Mohnblumen und den Schierling. Er verkroch
sich ganz darein, wie in einen dicken grünen Teppich.
Nur sein Gesicht schien daraus hervor wie ein weißer
aufgehender Mond. So, nun saß er erst einmal.
Er war also frei. Es war aber auch höchste Zeit, daß
sie ihn herausgelassen hatten, denn sonst hätte er alle
umgebracht, alle miteinander. Den dicken Direktor, den
hätte er an seinem roten Spitzbart gekriegt und ihn unter
die Wurstmaschine gezogen. Ach, was war das für ein
widerlicher Kerl. Wie der immer lachte, wenn er durch
die Fleischerei kam.
Teufel, das war ein ganz widerwärtiger Kerl.
Und der Assistenzarzt, dieses bucklige Schwein, dem
hätte er noch mal das Gehirn zertreten. Und die Wärter
in ihren weiß gestreiften Kitteln, die aussahen wie eine
Bande Zuchthäusler, diese Schufte, die die Männer
bestahlen und die Frauen auf den Klosetts
vergewaltigten. Das war ja rein zum Verrücktwerden.
Und er wußte wirklich nicht, wie er da seine Zeit
ausgehalten hatte. Drei Jahre oder vier Jahre, wie lange
hatte er da eigentlich gesessen, dahinten in diesem weißen
Loch, in diesem großen Kasten, mitten unter Verrückten.
Wenn er da morgens in die Fleischerei ging, über den
großen Hof, wie sie da herumlagen und die Zähne
fletschten, manche halbnackt. Dann kamen die Wärter
und schleppten die fort, die sich besonders schlecht
aufführten. Sie wurden in heiße Bäder gesteckt. Da war
mehr wie einer verbrüht worden, mit Absicht, das wußte
er. Einmal wollten die Wärter einen Toten in die
Fleischerei bringen, daraus sollte Wurst gemacht werden.
Das sollten sie dann zu essen bekommen. Er hatte es
dem Arzt gesagt, aber der hatte es ihm ausgeredet. So,
der hatte also mit unter der Decke gesteckt. Dieser
verfluchte Hund. Wenn er ihn jetzt hier hätte. Den würde
er in das Korn schmeißen und ihm die Gurgel abreißen,
diesem verfluchten Schwein, diesem Sauhund,
verfluchten.
Überhaupt, warum hatten sie ihn eigentlich in die
Anstalt gebracht? Doch nur aus Schikane. Was hatte er
denn weiter gemacht? Er hatte seine Frau ein paarmal
verhauen, das war doch sein gutes Recht, er war doch
verheiratet. Auf der Polizei hätte man seine Frau
rausschmeißen sollen, das wäre viel richtiger gewesen.
Statt dessen hatten sie ihn vorgeladen, verhört, lauter
Theater mit ihm aufgestellt. Und eines Morgens war er
überhaupt nicht mehr fortgelassen worden. Sie hatten ihn
in einen Wagen gepackt, hier draußen war er abgeladen
worden. So eine Ungerechtigkeit, so eine
Unverschämtheit.
Und wem hatte er das alles zu verdanken? Doch nur
seiner Frau. So, und mit der würde er jetzt abrechnen.
Die stand noch hoch im Konto.
Er riß in seiner Wut von dem Feldrande ein Büschel
Kornähren ab und schwenkte es wie einen Stock in der
Hand. Dann stand er auf, und nun wehe ihr.
Er nahm das Bündel mit seinen Sachen über seine
Schultern, dann setzte er sich wieder in Marsch. Aber er
wußte nicht recht, wo er hingehen sollte. Ganz hinten
über den Feldern rauchte ein Schornstein. Den kannte er,
der war nicht weit von seiner Wohnung.
Er verließ die Straße und bog in die Felder ab, mitten
hinein in die Halme. Geradeswegs auf sein Ziel zu. Was
das für ein Vergnügen war, so in die dicken Halme zu
treten, die unter seinem Fuß knackten und barsten.
Er machte die Augen zu, und ein seliges Lächeln flog
über sein Gesicht.
Es war ihm, als wenn er über einen weiten Platz ginge.
Da lagen viele, viele Menschen, alle mit dem Kopfe auf
der Erde. Es war so, wie auf dem Bild in der Wohnung
des Direktors, wo viele tausend Leute in weißen Mänteln
und Kapuzen vor einem großen Stein lagen, den sie
anbeteten. Und dies Bild hieß Kaaba. »Kaaba, Kaaba«,
wiederholte er bei jedem Schritt. Er sagte das wie eine
mächtige Beschwörungsformel, und jedesmal trat er dann
rechts und links um sich, auf die vielen weißen Köpfe.
Und dann knackten die Schädel; es gab einen Ton, wie
wenn jemand eine Nuß mit einem Hammer entzweihaut.
Manche klangen ganz zart, das waren die dünnen, das
waren die Kinderschädel. Da gab es einen Ton, wie
Silber, leicht, duftig wie eine kleine Wolke. Manche
wieder schnarrten, wenn man auf sie trat, ähnlich wie
Waldteufel. Und dann kamen ihre roten, flatternden
Zungen aus dem Munde heraus, wie es bei den
Gummibällen war. Ach, es war wunderschön.
Manche waren so weich, daß man gleichsam einsank.
Sie blieben an den Füßen kleben. Und so ging er mit zwei
Schädeln an den Beinen dahin, als wäre er eben aus zwei
Eierschalen ausgekrochen, die er noch nicht ganz
abgeschüttelt hatte.
Am meisten freute es ihn aber, wenn er irgendwo den
Kopf von einem alten Manne sah, kahl und blank, wie
eine marmorne Kugel. Da setzte er erst ganz vorsichtig
auf und wippte erst ein paarmal zur Probe, so, so, so.
Und dann trat er zu, knacks, daß das Gehirn ordentlich
spritzte, wie ein kleiner goldener Springbrunnen.
Allmählich wurde er müde. Er erinnerte sich plötzlich an
den Verrückten, der glaubte, er hätte gläserne Beine, und
er könnte nicht laufen. Er hatte den ganzen Tag auf
seinem Schneidertisch gesessen, aber die Wärter hatten
ihn immer erst hintragen müssen. Allein war er keinen
Schritt gegangen. Wenn sie ihn auf seine Beine stellten,
ging er einfach nicht weiter. Dabei waren seine Beine
ganz gesund, das sah doch jeder. Sogar auf das Klosett
war er nicht einmal allein gegangen, nein, wie einer doch
so verrückt sein konnte. Das war ja zum Lachen.
Neulich war der Pfarrer zu Besuch gewesen, und da
hatte er mit ihm über den Verrückten gesprochen: »Sehen
Sie mal, Herr Pastor, der da, der Schneider, der ist doch
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