aufmachen, schrecklich, sie waren stumm. Schrecklich,
sie konnten kein Glied rühren, sie waren gelähmt.
Und die schwarzen Träume flatterten über die
Haufen, die zu Klumpen geballt beieinander standen und
lagen wie ein Heer, verurteilt zum ewigen Tode,
geschlagen mit ewiger Stummheit, verflucht, wieder in
den Bauch von Paris unterzutauchen, zu leiden, zu
hungern, geboren zu werden und zu sterben in einem
Meer der schwarzen Finsternis, der Fronden, des
Hungers und der Sklaverei, erdrückt von blutgierigen
Steuerpächtern, ausgemergelt von der ewigen
Auszehrung, entnervt von dem ewigen Rauch der Gassen
und wie ein altes Pergament verwelkt von der beizenden
Luft ihrer niedrigen Höhlen, verdammt, einst zu erstarren
im Schmutze ihrer Betten und in einem letzten Seufzer
den Priester zu verfluchen, der gekommen war im
Namen seines Gottes, im Namen des Staates und der
Autorität, ihnen zum Dank für die Geduld ihres elenden
Lebens die letzten Groschen zu Kirchenvermächtnissen
abzupressen.
Niemals schien eine Sonne in ihre Gräber. Was
kannten sie von ihr in ihren gräßlichen Löchern? Sie
sahen sie manchmal mittags über die Stadt hinschweben,
betäubt von ihrem Qualm, in dicke Wolken gehüllt, eine
Stunde oder zwei. Und dann verschwand sie. Die
Schatten kamen wieder unter den Häusern hervor und
krochen an ihnen hoch, schwarze Polypen der Gasse mit
ihrer kalten Umarmung.
Wie oft hatten sie an den Gärten von Luxembourg
gestanden, und durch die Spaliere der Grenadiere auf die
weiten sonnigen Wiesen geschaut. Und sie hatten die
Tänze der Hofdamen angeglotzt, die Hirtenstöcke der
goldbetreßten Kavaliere, die Bücklinge der Mohren, die
Tabletten voll Orangen, Biskuits, Konfekt, die goldene
Karosse, in der die Königin langsam durch den Park fuhr
wie eine syrische Göttin, eine ungeheure Astarte, starrend
von weißer Seide und glitzernd wie eine Heilige von
tausend Perlen.
O, wie oft hatten sie von dem Duft, der Würze des
Moschus getrunken, wie oft waren sie beinahe erstickt
von den Wohlgerüchen des Ambra, die aus dem Park des
Luxembourg zogen wie aus einem geheimnisvollen
Tempel. O, man hätte sie doch einmal hereinlassen
können, einmal auf einem solchen Samtstuhl zu sitzen,
einmal in einem solchen Wagen zu fahren. Sie hätten mit
Vergnügen die ganze Nationalversammlung
totgeschlagen, sie hätten dem König die Füße geküßt,
wenn er sie einmal für eine Stunde ihren Hunger und die
kahlen Felder verzweifelter Ernten hätte vergessen
machen.
Und sie zerpreßten sich ihre Nasen an den
Eisenstäben der Gitter, sie steckten ihre Hände hindurch,
Scharen von Bettlern, Herden von Ausgestoßenen und
Wimmernden. Und ihr schrecklicher Geruch zog in den
Park wie eine Wolke düsteren Abendrotes, das einem
schrecklichen Morgen voraufgeht. Sie hatten sich an das
Gitter gehängt wie gräßliche Spinnen und ihre Augen
waren weit in den Park hinausgewandert, in seine
abendlichen Wiesen, seine Hecken, seine Lorbeergänge,
seine Marmorfiguren, die von ihrem Postament herab
ihnen ihr süßliches Lächeln zukehrten. Kleine
Liebesgötter, Putten, dick wie gemästete Gänse, mit
Armen, die weißen ausgestopften Würsten glichen,
zielten nach ihrem aufgerissenen Mund ihre Liebespfeile
und winkten ihnen mit dem steinernen Köcher, während
auf ihre Schultern wie ein Klotz die Arme der
Gerichtsvollzieher fielen, die gekommen waren, sie in die
Schuldtürme zu werfen.
Die Schläfer stöhnten, und die Wachenden beneideten
sie um ihren Schlaf.
Sie sahen vor sich hin, voraus, die Straße hinab nach
den Brotkarren, die ausgestorbene Straße, die die
Schrecken der Revolution verödet hatten und die wie ein
toter Darm keine Zufuhren mehr in den Bauch
Frankreichs hineinwarf. Sie war weiß und lief endlos in
einen tauben Himmel, der, fett wie ein Pfaffengesicht,
feist wie eine Bischofsbacke und ohne Runzeln wie ein
gemästeter Bettelmönch, seine fahle Stirn am Horizont
zeigte. Er war friedlich wie eine Dorfmesse, er war von
kleinen, grauen Nachmittagswolken sanft eingerahmt wie
ein alter Abbé, der nach dem Mittagessen in seiner
Sakristei, im Lehnstuhl sanft versargt, schlummert,
während ihm die Locken seiner Perücke in die Stirn
fallen.
Die Lumpen der Menschenherden verbreiteten einen
entsetzlichen Gestank. Ihre schmutzigen Halsbinden
flatterten um ihre grauen Gesichter. Ersticktes Weinen
verflog durch das entsetzliche Schweigen. Soweit man
sah, stachen ihre durchlöcherten Dreispitze in die Luft,
auf denen manchmal schmutzige Straußfedern tanzten.
Die zerstreuten schwarzen Figuren der Massen glichen
den erstarrten Pas eines düsteren Menuetts, einem Tanze
des Todes, den er mit einem Male hinter sich hatte
erstarren lassen, verwandelt in einen riesigen, schwarzen
Steinhaufen, gebannt und erfroren von den Qualen,
Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die die Flamme
eines höllischen Gomorra in ewige Starre geschmolzen
hatte.
Hoch über ihnen in dem kalten Oktoberhimmel ging
der eiserne Pflug der Zeit, der seine Felder ackerte mit
Kummer, besäte mit Not, auf daß daraus eines Tages die
Flamme der Rache aufginge, auf daß eines Tages die
Arme dieser Tausende leicht würden, beschwingt und
fröhlich wie leichte Tauben beim Schnitterdienste der
Guillotinenmesser, auf daß eines Tages sie wie Götter der
Zukunft unter den Himmel treten könnten, barhäuptig,
in dem ewigen Pfingsten einer unendlichen Morgenröte.
Aus dem weißlichen Himmel am fernen Ende der
Landstraße löste sich ein schwarzer Punkt.
Die Vordersten sahen ihn, sie machten einander
aufmerksam. Die Schläfer erwachten und sprangen auf.
Alle sahen die Straße hinab. War dieser schwarze Punkt
das Mekka ihrer Hoffnung, war das ihre Erlösung?
Für einige Augenblicke glaubten sie alle daran, sie
zwangen sich, daran zu glauben.
Aber der Punkt wuchs zu schnell. Jetzt sahen es alle,
das war nicht der langsame Zug vieler Karren, das war
keine Mehlkarawane. Und die Hoffnung verlor sich im
Winde und verließ ihre Stirnen.
Aber was war das? Wer ritt so toll? Wer hatte in dieser
toten Zeit einen Grund, so zu reiten?
Ein paar Männer kletterten auf die dicken Weiden und
spähten über die Köpfe der Massen.
Jetzt sahen sie ihn und schrien seinen Namen herab.
Es war Maillard. Maillard von der Bastille. Maillard vom
14. Juli.
Und da kam er heran, mitten unter die Volkshaufen.
Er hielt an, und dann bekam er nur ein Wort heraus.
»Verrat!« schrie er.
Da brach der Orkan los. »Verrat, Verrat!« Einige zehn
Mann faßten ihn an und hoben ihn auf ihre Schultern. Er
stand oben, mit der einen Hand sich an einen Baum
stützend, ohnmächtig vor Anstrengung, fast blind vom
Schweiß, der ihm aus seinem schwarzen Haar um die
Augen lief.
Maillard will reden, hieß es. Da trat eine furchtbare
Ruhe ein. Alle warteten, warteten mit dem furchtbaren
Warten der Massen vor dem Aufruhr, in den furchtbaren
Sekunden, in denen die Zukunft Frankreichs gewogen
ward, bis die Schale voll Fesseln, Kerkern, Kreuzen,
Bibeln, Rosenkränzen, Kronen, Zeptern, Reichsäpfeln,
gebettet in die falsche Sanftmut bourbonischer Lilien,
voll hohler Worte, Versprechungen, Tafeln voll
königlicher Eidbrüche, ungerechter Urteile, harmloser
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