Privilegien, dieser ungeheure Berg alles dessen, mit dem
die Jahrtausende Europa betrogen hatten, langsam zu
sinken begann.
Maillard schwang sich in den Baum herauf.
Aus seiner kahlen Kanzel herab warf er seine
furchtbaren Worte über die Menschen dahin, über die
kahlen Felder, die düsteren Wälle, die schwarzen
Zugbrücken, überladen von Menschen, in die Tunnels
der Tore, über die Dächer von Paris, in die Höfe und
Gäßchen der düsteren Faubourgs, in alle die Burgen des
Elends weit hinaus, wo unter der Erde in den Kanälen
bei den Quartieren der Ratten noch ein verdammtes Ohr
war, das seine Worte vernahm.
»An die Nation! Ihr Armen, ihr Verfluchten, ihr
Ausgestoßenen! Man verrät euch. Man preßt euch aus.
Ihr werdet bald nackt herumlaufen, auf den Treppen
werdet ihr sterben, und aus euren starren Händen werden
die Steuerpächter, die Schergen des Capets, Bluthunde
des Bluthundes, Spinnen der Spinne, eure letzten
Groschen reißen.
Wir sind verlassen, wir sind verstoßen, und es geht
mit uns zu Ende. Sie werden uns bald den letzten Rock
vom Leibe reißen. Aus unseren Hemden werden sie uns
Stricke drehen. Wir werden mit unserem Leibe die
kotigen Straßen pflastern, damit die Wagen der Henker
trocken darüber fahren. Warum sollten wir auch nicht
sterben? Denn wir verpesten mit unsern Leibern die Luft,
wir stinken, man faßt uns nicht an, nicht wahr? Warum
sollten wir nicht sterben? Was können wir auch tun? Wir
können uns ja nicht wehren? Wir sind mürbe gemacht,
wir sind stumm gemacht.
Man hat künstliche Teuerungen erzielt, man hat uns
ausgehungert, der Hunger hat uns totgemacht.«
Jedes Wort fiel wie ein schwerer Stein in das Volk. Bei
jeder Silbe warf er seine Arme nach vorn, als wollte er
mit dem Bombardement seiner Worte den Horizont
selber ins Wanken bringen.
»Wißt ihr, was diese Nacht geschehen ist? Die
Königin –«
»Ha, die Königin«, und die Massen wurden noch
stiller, als sie den verhaßten Namen hörten.
»Die Königin, wißt ihr, was die alte Hure getan hat?
Drei Regimenter Dragoner hat sie nach Versailles
kommen lassen. Die liegen in allen Häusern, und die
Leute der Versammlung wagen kaum noch zu reden.
Mirabeau ist klein geworden wie ein Zwerg, und die
anderen alle können sich kaum noch zu einem dürftigen
Räuspern aufschwingen. Es ist eine Schande, das zu
sehen. Wofür haben sie im Ballhause geschworen, diese
Komödianten der Freiheit? Wofür habt ihr euer Blut bei
der Bastille gelassen? Es war alles umsonst, hört ihr,
umsonst.
Ihr müßt wieder in eure Höhlen kriechen, die
Freiheitsfackel ist ein kleines Nachtlicht geworden, eine
kleine Tranfunzel. Gut genug, um euch wieder in eure
Löcher zu leuchten.
In drei Tagen wird Broglie mit seinen Truppen hier
sein. Die Versammlung wird nach Hause geschickt, die
Folter wird wieder aufgerichtet. Die Bastille wird wieder
aufgebaut. Die Abgaben werden wieder gezahlt. Alle
Kerker sperren schon ihre Mäuler auf.
Euer Hunger wird nicht gestillt werden, verzweifelt
getrost. Der König hat die Brotkarren noch vor Orleans
anhalten lassen und sie wieder nach Hause geschickt.«
Seine Worte gingen unter in dem Schrei der Wut. Ein
ungeheurer Sturm geballter Fäuste schüttelte sich in der
Luft. Die Massen begannen zu schwanken, wie ein
ungeheurer Malstrom, rund um seinen Baum.
Und der Baum ragte heraus aus dem Meere der
Schreie, aus den kreisenden Flüchen der verzerrten
Gesichter, aus dem Echo des Zornes, das wie ein
schwarzer, riesiger Wirbelwind vom Himmel zurückkam
und ihn im Kreise zu erschüttern begann, daß er dröhnte
wie der Klöppel einer ehernen Glocke.
Der Baum ragte heraus wie von düsteren Flammen
angezündet, eine kalte Lohe, die ein Dämon aus dem
Abgrund hatte aufschießen lassen.
Hoch oben in seinem fahlen Geäst hing Maillard wie
ein riesiger schwarzer Vogel und warf seine Arme im
Kreise hin und her, als wollte er sich zum Fluge über die
Menschenmassen anschicken in den Abend hinaus, ein
Dämon der Verzweiflung, ein schwarzer Belial, der Gott
der Masse, der düstres Feuer aus seinen Händen warf.
Aber in seiner Stirn, die das dunkle Licht wie mit
überirdischer Weiße übergoß, spiegelte ein goldener
Strahl, der durch die Wolken kam, hoch über dem Chaos
aus dem Zenith des Himmels.
Nur ein kleiner Streifen am Westhimmel war hell
geworden, dort war der Himmel über die Felder gespannt
wie ein Teppich von seidener Bläue, der noch von den
Erinnerungen eines verschwiegenen Schäferspiels
träumte.
Aus dem Toben der Massen heraus schallte plötzlich
zweimal von einer lauten Stimme gerufen im Paroxysmus
eines gellenden Diskantes der Ruf: »Nach Versailles, nach
Versailles!« Es war, als hätte es die riesige Masse selber
gerufen, als hätte ein Wille das ausgesprochen, was in den
Tausenden der Köpfe sich wälzte. Da war ein Ziel. Das
war kein Chaos mehr, die Menschenmassen waren mit
einem Schlage ein furchtbares Heer. Wie ein riesiger
Magnet riß der Westhimmel ihre Köpfe herum, wo
Versailles ihrer harrte. Diese Straße würden sie jetzt
gehen, sie würden nicht mehr warten. Die Kräfte, die der
Sturm der Verzweiflung in ihnen aufgewühlt hatte, hatten
einen Willen, einen Weg. Der Damm war gebrochen.
Die ersten Reihen setzten sich spontan in Marsch. In
Reihen zu vieren, zu fünfen, soweit die Breite der Straße
es erlaubte.
Maillard sah das. Er kletterte, so schnell er konnte,
von seinem Baum herab, rief drei Mann, die er kannte, zu
sich und rannte mit ihnen über die Felder an den Massen
entlang, bis er ihre Spitze erreichte. Da stellte er sich mit
seinen Leuten dem Strome entgegen und versuchte, auf
sie einzureden, sie sollten einen Führer wählen, Waffen
holen. Aber er wurde nicht gehört. Jetzt war seine
Stimme wie die eines jeden anderen, der diese eisernen
Bataillone hätte aufhalten wollen. Die Massen stießen ihn
zur Seite, sie überschwemmten die kleine Mauer der vier
Mann und rissen Maillard und seine Leute mit sich die
Straße hinab.
Ein unsichtbarer Führer führte sie, eine unsichtbare
Fahne wehte vor ihnen her, ein riesiges Panier wallte im
Winde, das ein ungeheurer Fahnenträger vor ihnen
hertrug. Ein blutrotes Banner war entfaltet. Eine
gewaltige Oriflamme der Freiheit, die mit einem
purpurnen Fahnentuche im Abendhimmel ihnen
vorausflackerte wie eine Morgenröte.
Sie alle waren unzählige Brüder geworden, die Stunde
der Begeisterung hatte sie aneinandergeschweißt.
Männer und Weiber durcheinander, Arbeiter,
Studenten, Advokaten. Weiße Perücken, Kniestrümpfe
und Sansculotten, Damen der Halle, Fischweiber, Frauen
mit Kindern auf dem Arm, Stadtsoldaten, die ihre Spieße
wie Generale über der Masse schwangen, Schuster mit
Lederschürzen und Holzpantoffeln, Schneider,
Gastwirte, Bettler, Strolche, Vorstädter, zerlumpt und
zerrissen, ein unzähliger Zug.
Barhäuptig zogen sie die Straße hinab, Marschlieder
erschallten. Und an Spazierstöcken trugen sie rote
Taschentücher wie Standarten.
Ihre Leiden waren geadelt, ihre Qualen waren
vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.
Das war der Abend, wo der Sklave, der Knecht der
Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt in die
Abendsonne erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer
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