Nach dem ersten Schluck Tee, der so heiß war, dass sie ihn nur schlürfen konnte, nahm sie die handschriftliche Geschichte wieder zur Hand: Ganz andere Sätze waren das. Ganz anders als jene auf den Papieren, die manchmal aus den Aktenmappen des Herrn Professor hervorlugten oder die zuoberst in der Ablage auf seinem Schreibtisch lagen. Überhaupt kein holpriges Amtsdeutsch. Und auch keine endlosen Ketten von medizinischen Fachwörtern. Sie begann noch einmal von vorne:
Kurze Beine lügen nicht
Langsam beginnt das Morgengrauen, das Dunkel in seinem Zimmer zu verdrängen. Er ordnet die Bettdecke mit seinen nervösen Beinen und fällt noch einmal in den Halbschlaf zurück. Traumfetzen schwirren in ihm umher. Er versucht, sich zwischen ihnen behaglich einzurichten, sie zu einem beruhigenden Faden zusammenzuknüpfen. Doch sie bleiben störrisch und gehorchen nur den Gesetzen der Nacht.
Die Stimme seiner Mutter drängte ihn aus dem warmen Haus. Die der Großmutter weit weg. Seine helle Sopranstimme verschluckte sein Nein, das in ihm aufschrie. Ohne dass er wusste, woher dieses Nein kam, wohin es gehörte. Seine kurzen Beine gehorchten und gingen zur Gartenpforte hinaus. Sie liefen ohne ihn. Allein, einsam, nur auf sich gestellt. Sein Nein und die Welt, die in ihm wohnte, gefroren zu einem Eisblock. Schwer hatten seine Beine daran zu tragen.
Nachdem seine Erstklässlerfüße die Busstufen erklommen hatten, zappelten sie in Erwartung des Stillstehens, das in der Stadtkirche geboten war. Nach dem Ausstieg am Marktplatz: Seine Beine - wie zwei Instrumente des Gehorsams agierten sie. Seine blutleeren Oberschenkel, Knie, Unterschenkel, Füße und Zehen. Gelenkt von einem fremden Taktstock, brachten sie seinen Oberkörper zu den drei breiten Stufen vorm Altar, wo die Proben des Knabenchores stattfanden. Seinen Oberkörper, der bis auf seine Singstimme völlig entleert war. Seinen schmächtigen Oberkörper - nicht mehr als eine Hülle, eine Fassade, die er vor sich her schob. Darauf sein steif gewordener Kopf - er trug ihn nicht mehr selbst. Stattdessen hing er an einem unsichtbaren Faden, der irgendwo an der Kirchturmspitze befestigt war.
Zuerst das Einsingen: Das gemeinsame Einatmen, die gemeinsamen nichtssagenden Silben - rauf und runter. Wie ein Gebet, das einfach nur schön klingen sollte. Ein Gebet, das nirgendwohin führte. Das Formen der Laute nochmal und nochmal. Das Vorsingen der tiefen bärtigen Stimme, die breitbeinig vor ihnen stand, galt es nachzuahmen. Wurde sie aber zur Sprechstimme, dann forderte sie, säuselte sie, flüsterte sie, brauste sie auf, wurde laut, riss die Worte an sich.
Manchmal polterte ein Lachen aus dem Bart, bei dem er, der Erstklässler, nie wusste, ob er mitlachen oder besser ernst bleiben sollte. Hinter der dicken Hornbrille, die aus dem Bart herauswuchs, die Augen. Diese Augen, die ihn so anschauen konnten, dass er ihnen nicht mehr auszuweichen wagte. Immer wieder suchten sie sein Gesicht ab. Sie ruhten zu lange auf ihm, sie machten sich lustig über ihn. Bis sie endlich von ihm abließen und das gleiche Spiel mit einem anderen seiner Singkameraden wiederholten. Ihnen allen, den kleinen Sängerknaben, fehlte die Sprache, Scherze darüber in der Pause zu machen. So viel leichter war es in der Schule. Sein Lehrer dort mochte es, wenn man über ihn lachte. Wie von selbst lachten dann alle fröhlich mit.
Er fühlte, wie seine Singstimme beim Einsingen immer weicher wurde, sie glitt auf und ab, wurde wendiger, wurde kräftiger. Beinahe hätte sie das Nein hinausgeschrien. Doch die dirigierende Hand vor ihm zeigte genau, wo es lang ging.
Nach dem Warmsingen bekamen sie Notenblätter in die Hand. Jetzt wurde der obligatorische Bachchoral geprobt. Dafür trennte man die kleinen und großen Knaben in einzelne Stimmgruppen. Einige der älteren Sängerknaben übernahmen das Zepter. Sie führten den Bass, Tenor, Alt und Sopran in die verschiedenen Räume, die im Kellergewölbe der Kirche verborgen waren.
Dieser Augenblick ließ jedes Mal sein kleines Herz lauter schlagen. Dies war der Moment, in dem die schwarzen Pupillen hinter der dicken Hornbrille die Reihen im Sopran und Alt absuchten und dann plötzlich bei einem Augenpaar anhielten und es nicht mehr losließen. Das bedeutete, dass man ihm die kalten Steinstufen hinab folgen musste. In einen kleinen Raum mit zwei grünen Sesseln und einem Klavier. „Du hast heute besonders gut gesungen. Wir werden deiner schönen Stimme noch ein paar Geheimnisse entlocken. Vielleicht kann sie dann bald mit einem kleinen Solo unsere Kirche füllen. Dann werden ganz allein deine Töne durch die Luft fliegen und die schönsten Bilder an unser Kirchengewölbe malen“, versprach der dunkle Bart. Sein Herz ging wieder leiser und langsamer, wenn nicht er es war, der dieser bärtigen Stimme folgen musste.
Wurde jedoch seine - genau seine - Sopranstimme ausgewählt, dann schlug sein Herz nicht nur bis zum Hals, zum Mund heraus. Es bebte, es überschlug sich, raste davon - mit all seiner Kraft einen Ausweg suchend. Aber da war kein Ausweg, keine andere Tür. Nur noch anhalten wollte es, als es sich mit ihm in den dunklen, engen Flur zwingen musste. Kleinlaut und schwer wurde es. Fühlte sich schuldig. Wahrscheinlich hatte es einmal falsch geschlagen. Bestimmt war es so. Irgendwann hatte es, ohne es zu wissen, einen falschen Ton angeschlagen. Vor dem Zimmer blieb es - rot vor Scham - stehen und ließ ihn hineingehen, den kleinen Sänger. Mutterseelenallein verharrte das Herz draußen vor der Tür, während hinter der Tür ein kleiner, herzloser Körper gehorchte, gefror, erstarrte - verstört, verwaist, verschwiegen.
Das Herz stand still. Stand still vor der Tür. Stand still in dem Keller, auf dem die Kirchenpfeiler ruhten. Es wusste nicht mehr, wie es schlagen sollte, hatte seinen Rhythmus verloren, seine vertraute Melodie vergessen. Es wusste auch nicht, wie lange es still gestanden hatte, als sich die Tür wieder öffnete. Es brannte darauf, endlich wieder für den kleinen Körper schlagen zu können. Aber sein angestammter Platz war besetzt. Stattdessen regierte dort etwas Fremdes und gab den Takt vor: Der heruntergeschluckte Ekel, der keinen Namen kannte. Die riesige, feuerrote, bärtige Zunge, auf der feuchte, unverständliche Worte schwammen. Die behaarte Hand, eine riesige Pranke, die ihm seine Haut gestohlen hatte.
Da das Herz keinen Einlass mehr fand, erflehte es von dem Kinderkörper eine Umarmung, damit es endlich wieder bei ihm sein konnte. Aber die gefühllosen Kinderhände glitten an dem Herzen ab. Da legte es seine ganze Hoffnung in einen alten Freund, der ihm - schon so viele Male zuvor - zu Hilfe geeilt war.
Als alle Stimmen wieder in der Kirche vereint waren, da erschien er - sein Freund - Johann Sebastian mit einer weißen Perücke auf dem Kopf. Er zog den Jungen mit seinen schlichten Choralzeilen in den Bann. Berührte mit seinen Harmonien die Stimme des Jungen. Seine schmale Brust begann sich zu weiten. Mit jedem Atemzug mehr und mehr. Er atmete noch einmal tief ein und sein Brustkorb hob und öffnete sich. Endlich war das kleine Herz wieder zuhause. Es beruhigte sich auf den langen Fermaten. Bis in alle Zellen hinein wärmte es den kleinen Körper.
Der Bachchoral aus dem Lautsprecher seines Weckers dringt angenehm leise in seine Ohren. Wie immer weckt ihn Bach persönlich. Jeden Morgen überrascht ihn der eingebaute Zufallsgenerator mit einem seiner Lieblingschoräle. Der Rollstuhl neben dem Bett wartet darauf, ihn und seine bewegungslosen Beine durch den Tag zu rollen.
Er hört sie schon, die Schritte der anderen Patienten auf dem Flur. Gleich wird es Frühstück geben und danach beginnt die Gruppentherapie. Die Anderen - sie können laufen - auch wenn sie, wie er, viel zu tragen haben. Seine Beine jedoch - inzwischen lang gewachsen - gehorchen ihm nur noch nachts. In der schützenden Nacht werden sie wieder lebendig - können laufen, rennnen, klettern, springen, gehen, stehen, knien - gehören nur ihm, ihm ganz allein. Am helllichten Tage aber gefrieren sie zu zwei starren Eisblöcken und halten noch heute die unaussprechliche Wahrheit gefangen. R.T.
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