„Michael und Sami haben die Abkürzung genommen, Dad. Sie werden schon unten sein.“ Ganz locker hat er sich vor mich gestellt, wartet, bis ich hochkomme, dann hebt er Max auf seine Schultern, geht voraus und es wird eng, leicht abschüssig, zwischen den Bäumen sehe ich trübes Wasser glitzern, sehe es fliessen. „Richard! Die Steine! Stehen sie am Fluss?!“ „Nein, sie stehen unten in der Mulde, Vicky, und es ist nur ein Flüsschen. Willst du vorgehen?“ Sie sind zum Flüsschen, ganz sicher sind sie das, haben nicht widerstehen können, und geregnet hat es, viel Wasser wird es führen, kaltes Wasser; ich haste bergab, komme in eine weite Mulde, trete ein in einen verwitterten Kreis von Steinen. Verschieden hoch sind sie, verschieden breit, umgeworfen vielleicht vor langer Zeit, und Sami und Michael hocken zuoberst auf dem grössten Stein, sehen aus wie die Bezwinger eines unbezwingbaren Gipfels, sehen aus wie eine Waschmittelreklame.
„Hat Ihnen das Buch gefallen, Viktoria?“ Wieso ist er schon hier, ich bin doch so schnell gegangen, „ich habe nicht mehr gelesen gestern.“ „Schade. Ich hätte gerne gewusst, welche der Geschichten Ihnen am besten gefallen hat.“ „Die mit dem Tabakladen.“ Warum hältst du nicht einfach dein Maul? „Ja, eben, ich habe es schon gekannt“, muss etwas tun, irgendetwas, jetzt gleich! „Ich mache ein Feuer.“ „Das geht nicht, Vicky, das Holz ist nass“, und Sami will wissen, was Michael eben gesagt hat. „Wetten, dass sie das kann? Mami, was heisst wetten? Sie kann es. Wetten? Wie viel? Mami, was heisst wie viel?“ Ah, mein Sohn, mein liebes Kind, so viel Vertrauen in meine Fähigkeit, mit nassem Holz Feuer zu machen; „zwischen dem Laub musst du nachschauen, unter dem Reisig, da ist es trockener“, und wir machen uns davon, sammeln Holz, machen ein Feuer.
„Wo hast du das gelernt, Vicky, warst du bei den Pfadfindern?“ „Nein, aber wir waren immer im Wald und haben Hütten gebaut, Frösche haben wir auch gefangen und einmal fingen wir sogar eine Ringelnatter“, und ich denke an die kleine Schlange, habe keine Ahnung mehr, wie wir es angestellt hatten. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Oh nein, so grausam; und er sieht mich an, sieht mich immer an, „Vicky?!“ „Was?“ „Die Ringelnatter!“, „wir haben sie in ein kleines Schwimmbecken gebracht.“ „Und dann?“ Das kann ich nicht sagen, „und dann?!“, „wir haben einen Frosch hinein geworfen“, und ich sehe ihn vor mir, den kleinen, grünen Frosch.
In seinem Hals hatte es geklopft, schnell, und er war da gekauert, bewegungslos, mit seinem pochenden, gelben Hals, erstarrt, zu Tode schon. Ein Sprung hätte ihn gerettet, ein einziger nur, über den Rand des Planschbeckens hinaus, und ich schaue auf, sehe Nebel steigen, sehe seine Augen und er ist die Schlange, ich bin der Frosch und der kleine Junge vor mir packt meinen Arm. „Habt ihr zugesehen?! Vicky! Hast du zugesehen wie sie ihn gefressen hat?!“ „Sie haben ihn zum Springen gebracht, ich bin aber schon vorher weggelaufen.“ „Mädchen!“ „Ja, genau“, und zu gerne würde ich ihn etwas knuddeln, denke, dass man das nicht darf, überlasse ihm meinen Arm, bis er ihn los lässt, bis Robin nachschaut, was für Frösche der Mann uns eingepackt hat.
„Wo geht ihr hin? Ihr geht nicht allein zum Fluss. Sami!“ Brummelnd ziehen sie ab, ich schaue ihnen nach, lasse meine Augen zu Richard schweifen, wie er bei seinem Vater sitzt, auf ihn einspricht. Was für ein seltsamer Junge und wie schnell er begreift, meine Angst vor dem Fluss; Robin frotzelt über Hexen, Steine, eisig kommt der Wind zurück, zerfetzt die Nebel, weht die Jungen herbei. Ich muss nach Hause, jetzt gleich, wir müssen gehen; Sami und Michael rennen, Max sitzt auf Robins Schultern und Richard geht neben ihm. Schnell gehen sie alle, nur er geht langsam, wie eine Schnecke. „Warum wollten Sie wissen, ob es hier einen See gibt, Viktoria?“ „Wegen dem Wind.“ „Wegen dem Wind?“ „Ja, er riecht nach See.“ Stehen bleibt er auch noch, hebt die Nase in die Luft und ich schaue hinein in den Wald. „Der Wind riecht nach Regen.“ „Und nach See.“ Fragen würde ich gerne, ob er ihn kennt. Grau wird er sein, nebelgrau; und wir gehen weiter, ich sehe einen Stab, wie ein Speer ist er geformt, hebe ihn auf, würde ihn gerne werfen.
„Sie mögen Steine?“ „Ja, ich mag Steine.“ „Jedoch keine Findlinge aus den Glarner Alpen.“ „Lauschen Sie immer den Gesprächen anderer Leute, Hoheit?“ „Ja, meistens. Wie alt sind Sie, Viktoria?“ „Ich bin achtunddreissig.“ Es ist noch nicht so lange her, da war ich zwanzig, fünfzehn, dreissig, und jetzt bin ich bald vierzig. Ach, was soll’s, vierzig oder tot, dann schon lieber vierzig, und ich werfe den Stab. „Ein Akt der sinnlosen Auflehnung?“ Ja, genau, das ist es; und er steht vor mir, versperrt den Weg, ich schaue an ihm vorbei, schaue zu Boden.
„Warum sehen Sie mich nie an, Viktoria?“ Weil ich falle, wenn ich es tue, ganz tief; und seine Hand ist in meinem Haar, nimmt ein Blatt weg, legt sich um meinen Nacken, ich hebe den Blick, falle in seine Augen und er kann alles sehen, wissen; „wer bist du?“ Rau klingt seine Stimme, wie der heisere Schrei eines Vogels über unseren Köpfen, und ich trete zurück, einen Schritt nur, einen halben. „Ich bin Rumpelstilzchen“, er nimmt meinen Arm, „ich bin Viktoria Tavares, eine ganz gewöhnliche Frau und Mutter, und Sie, Sie sind ein Prinz und ein Gentleman, hoffe ich, weil wir müssen gehen, sonst verpass ich meinen Flug und komme in die Hölle morgen. Das ist so, bitte, glauben Sie mir, und da! Sehen Sie? Die Wolke? Wir werden nass!“ Er lacht, überreicht mir das Blatt, wir gehen schneller.
Habe ich alles eingepackt? Das Kissen, ja, das Nuschi, ja, habe Durst, grossen Durst, muss noch in ein Flugzeug steigen, weiss nicht, ob ich das schaffen werde, „Mami?“ „Hm.“ „Kann Michael einmal zu uns kommen?“ „Ja, ja.“ „Wann? In den Frühlingsferien?“ „Was?“ „In den Frühlingsferien? Mami?“ „Was? Nein.“ „Aber du hast doch eben gesagt“, „Sami, ich will nicht sprechen, bitte, auch nicht mit dir.“ „Vicky?“ Lasst mich in Ruhe! Ich muss in einen Flieger! „Viktoria?“ „Was?“ „Kannst du Ski fahren?“ „Ski fahren?“ Warum soll ich nicht Ski fahren können? Aber zuerst muss ich in ein Flugzeug und er grinst immer noch, dieser lustige Junge, hält mich fest und ich lasse mich halten von diesen Kindern, sollte gehen, möchte bleiben. Hier, bei dir. Für immer. Immer so. Nein. Nicht so. Nicht in der Halle; und ich ziehe seinen Geruch ein. Er riecht so gut.
Präsenz markiert mein Magen, das Ding steigt immer noch, das blöde Zeichen ist noch an, rauchen darf man auch nicht, und Max schreit voller Schmerz; es tut so weh. „Halt die Nase zu, Max. Ganz fest. So.“ Ich blase in meine Ohren, der Druck lässt nach, denke, dass ich schon lange nicht mehr rauche, dass es in keinem Flugzeug mehr erlaubt ist zu rauchen; und das Zeichen erlischt, ich hole Wasser, Max leert es aus und Sami will zu den Piloten. „Frag die Frau, Mami.“ „Frag du die Frau. Ich will nicht zu den Piloten.“ Nie tue ich etwas für ihn, nie, gemein, wie ich bin; und er fragt und Max will auch zu den Piloten.
„Du rührst nichts an. Hast du verstanden? Du wirst mir deine Hände geben und ich werde sie festhalten und du wirst nur schauen. Sonst gehen wir nicht.“ Ernst und ruhig spreche ich Portugiesisch, damit sich niemand aufregt, fange wieder von vorne an, wir treten ins Cockpit, „Mami! Es blinkt!“ „Ja, ich sehe es.“ „ É Brasileira ?“ Er hat den schweren Akzent der Schweizer, lacht, freut sich. „Nein, nein, ich bin aus Zürich.“ „ O meu pai é Brasileiro .“ Ganz leicht nur ist sein Akzent und wir lachen, haben etwas gemeinsam mit dem Piloten. Eine Freude, eine Erinnerung vielleicht an ein Lied, ein Tag am Meer, eine Nacht in São Paulo, Baile Gay in Rio. Wer weiss?
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