„Geht ihr weg?“ „Nein, wir sind unten.“ „Das ist ein grosses Haus.“ „Wir sind unten, Sami, du musst nur die Treppe runtergehen, dann findest du mich schon.“ „Er ist nett.“ „Wer?“ „Michael, und Richard auch.“ „Ja, und jetzt mach vorwärts, ich muss noch duschen.“ Schnell spült er sich den Mund aus, macht sich auf den Weg, „dürfen wir wieder in deinem Bett schlafen?“ „Ja.“ „Bleibst du noch ein bisschen?“ „Ein bisschen.“ „Michaels Vater ist sehr streng.“ „Mhm.“ „Er sieht dich immer an.“ „Wer?“ „Michaels Vater.“ „Hm.“ „Was machen wir morgen?“ „Richard hat gesagt, dass es im Wald eine Menge grosser Steine gibt. Da wollen wir hingehen.“ „Kommt er auch mit?“ „Wer?“ „Michaels Vater.“ „Kaum.“ Wir liegen auf dem Bett, Max sitzt auf meinem Rücken, will das Joggelispiel. Joggeli kannst du reiten? Ja, ja, ja. Ich bin das Pferd, er ist der Joggeli und ich werfe ihn ab, immer wieder, ein letztes Mal; Sami braucht sein Kassettengerät, es steht im Kaminzimmer, Wasser brauchen sie auch noch, ich brauche mein Kleid, die Schuhe, Unterwäsche, ziehe die Tür zu, lasse einen Spalt offen, ein Schimmer Licht für die beiden.
Wer bist du? Und du? Wer bist du? Ein Gesicht haben die Augen bekommen und ich werde Kopfschmerzen bekommen, fürchterliche Kopfschmerzen, mich hinlegen, hungrig; mache mich bereit, gehe hinunter, weiss, dass ich es nicht hätte tun sollen, als ich ihre Augen schaue, meine Vernichtung erblicke; und Robin hilft nicht! Warum auch? Er ist ein Jäger, das hier die Gelegenheit für leichte Beute, und ich möchte ihn prügeln, ohrfeigen! Das würde auch nicht helfen, sie sind alle gegen mich, alle, ausser Lucie. Nicht alle. Doch! Alle zusammen! Also gut, er sitzt auf der Mauer, ist neutral; und heiss kocht es auf, das Schweizer Urblut meiner luzernischen Grossmutter. Zwerge sind wir, und das wissen auch schon alle, Zwerge hinter den Sieben Bergen. Wo sonst sollen sie leben, wenn nicht in Stollen unter dem Fels, ihre Schätze hütend, um sich freizukaufen von der Schuld nicht zu bluten, wenn Riesen sich die Köpfe einschlagen, oder so ähnlich; vielleicht auch ganz anders, im Moment bin ich die Schweiz, genau, Mutter Helvetia umzingelt von Feinden. Ah Rob, du hast vergessen deinem Diener zu sagen, er soll die Fettnäpfchen wegstellen. Wie ungeschickt.
„Kommen Sie, Mrs. Tavares, ich helfe Ihnen.“ Er nimmt Sami auf die Arme, trägt ihn die Treppe hoch, ich trage das Kissen, das eine Wäsche dringend nötig hätte, nur riecht es dann nicht mehr und es dauert, bis er sich beruhigt, bis es wieder riecht nach ihm; laufe voraus, öffne die Tür, die zum Schlafzimmer, und geübt lässt er Sami ins Bett gleiten, ich decke ihn zu, mein Bübchen, lege das Kissen an seine Wange, sage ihm, dass ich hier bin. „Brauchen Sie noch etwas, Mrs. Tavares?“ „Nein, nein, vielen Dank, gute Nacht“, schliesse die Tür hinter ihm, nehme die Schuhe vom Tisch, denke, dass mich selten ein Mann so zuvorkommend behandelt hat. Ah, das halt ich nicht aus, das ist zu viel, zu hoch, zu weit; und ich ziehe mich aus, ziehe meinen Pyjama an, einen Pulli, weil es kühl ist, sehe das Schatzsuchespiel, sortiere die Karten, lege die Steine in ihr Fach, den Deckel auf die Schachtel, die Schachtel in die Tasche.
Haben sie nicht aufgeräumt weil sie Prinzen sind, oder wie ist das jetzt? Ach, vergiss es, und ich gehe zu Sami und Max, lege mich hin, höre ihnen beim Atmen zu; „lass mich, Dummkopf!“ Armer Max, sogar im Traum muss er sich wehren und ich habe vergessen die Zähne zu putzen, mich abzuschminken, stehe auf, gehe ins Bad, stehe vor dem Spiegel.
Wer bist du? Und du? Ich kenne dich, suche dich, so lange schon. Du; und ich öffne den Hahn, lasse das Wasser laufen, bis es warm ist, wasche mir die Schminke vom Gesicht, sehe mich an. Schminke ist wie Kokain, man braucht immer mehr davon, jeden Tag, immer mehr, dann geht die Haut kaputt, die Seele, und man braucht noch mehr Schminke. Lass den Blödsinn, Viktoria, und auf halbem Weg zurück ins Bett fällt mir ein, dass ich die Zähne noch immer nicht geputzt habe, kehre um, hole es nach, lege mich hin.
Unten ist eine Bibliothek. Ich kann kein Buch lesen in einer Nacht. Dann denk an etwas Schönes, und ich denke an Paraguay, an den kleinen, dicken General, der sicher nur ein Sargento gewesen war, einfach nur gebrüllt hatte wie ein General, denke an die Angst, spüre sie in meinem Bauch. Angst vor seiner Waffe, Angst, dass er mir etwas tut, Henrique hätte mir nicht helfen können, Angst vor seiner Angst. Denk an etwas Schönes, die Fälle, ja, er kennt sie, und sie sind schön, unglaublich schön. So viel Wasser. Nach Urwald hat es gerochen, hat zu regnen begonnen, weicher Regen, warm auf der Haut, und wir sind gerannt, sind auf den Fotografen gestossen. Kleine Fotos macht er, klebt sie auf Aschenbecher, Schlüsselanhänger, hat uns fotografiert, uns den Film gegeben. Ich habe es noch, das Bild, die Fälle sind nicht zu erkennen, sind eins geworden mit den Wassern des Himmels; und leise stehe ich auf, trete hinaus auf die Galerie, fühle mich beobachtet von den vielen Menschen auf den vielen Bildern, schleiche über die Treppe hinunter in die Bibliothek. Warm ist sie nach der Kühle der Halle und ich drehe das Licht auf, gehe etwas ran an die vielen dicken Bücher, möchte ein kleines, dünnes Büchlein, eins für eine Nacht.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mrs. Tavares?“ Ja, das tue ich, und der Boden wird kalt unter meinen Füssen. „Sie mögen keine Schuhe?“ Sieh ihn bloss nicht an! „Ja.“ „Ja, was?“ „Ja, ich suche etwas Bestimmtes, und ja, ich mag keine Schuhe, und Sie haben mich erschreckt. Hoheit.“ „Ich bin auch erschrocken, als plötzlich das Licht anging. Wollen Sie mir sagen, was Sie suchen, Mrs. Tavares?“ Nein, will ich nicht! „Nun?“ „Etwas kleines, leicht zu lesen.“ „In einer Nacht?“ „Kurzgeschichten. Vielleicht hat Robin so was.“ „Warum nennen Sie ihn Robin?“ Warum soll ich ihn verdammt nicht Robin nennen? Ach, hol’s der Teufel! „Es ist etwas kürzer. Hoheit.“
„Nehmen Sie dieses hier.“ Er hält es mir hin, ich muss es nehmen, aber dann muss ich ihn auch ansehen; „erlauben Sie, dass ich Ihnen noch eine Frage stelle, Mrs. Tavares?“ Nein! „Warum wollte der Mann Sie blossstellen?“ Welcher Mann denn? Und warum fragt er? Weiss er es nicht? „Ich weiss es nicht“, schaue ihn an und die Frau kommt herein, ich nehme das Buch aus seiner Hand, „Kurzgeschichten. Rob hat so was“, sage danke, schaue auf die Frau, „gute Nacht“, suche ihre Augen, denke, dass die eines Hais auch so aussehen könnten, gehe frierend durch die hohe Halle, die endlos lange Treppe hoch. Zerfleischen will sie mich, zerfetzen, und ich presse das Büchlein an meine Brust, als könne es mich beschützen.
Wie kommt sie zu dem Hass? Zu so viel davon? Ist er angewachsen durch die Zeiten, weitergegeben von Mutter zu Tochter, geschürt durch die Angst den Platz zu verlieren, den einzigen, der dem Frauenleben Sinn geben konnte? Was waren wir denn ohne Mann? Nichtsnutzige Weiber, vertane Materie, überflüssig, seelenlos. Das durfte es nicht geben, die unbemannte Frau, lächerliche Figur, die niemand will; alte Jungfer, Hure, Hexe, die ihn verzaubert, ihn verdirbt. Soll sie brennen! Ah, so viel Hass; und leise schliesse ich die Tür hinter mir, lege das Büchlein auf den Tisch, schenke mir ein Glas Wasser ein, trinke es aus, fülle es erneut, nehme es mit zum Feuer. Einmal ja, da war das anders, vor langer Zeit. Da wurden wir geehrt und geachtet, unsere Körper verehrt als Spender des Lebens, waren noch nicht gebrandmarkt als Ursprung allen Übels, auf dass man sie verschachern konnte, missbrauchen, schänden und verbrennen; und ich schaue in die Glut, denke, dass ich manchmal meine, mich zu erinnern. Und warum hat der Mann mich blossstellen wollen?
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