Als es dann an der Zeit war, machte ich mich bereit, ging hinunter, gelassen wieder, richtete mein Augenmerk auf Sandra. Schlecht hatte sie ausgesehen bei ihrer Ankunft, beide hatten sie schlecht ausgesehen, gereizt und gelangweilt. Seit Längerem hatten sie sich nichts mehr zu sagen, blieben zusammen, weil es erträglicher schien, verbitterten an der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihrer Lage, die jetzt so jählings in Bewegung geraten war; und sie gelang ihr nicht ganz, die Rolle der kühlen Gelassenen. Ich sah sie beben vor unterdrückter Erregung, bereit für die Jagd, dann bemerkte ich, dass Viktoria fehlte. Als ich in die Halle trat, sie eben rufen lassen wollte, kam sie, behutsam auf die Stufen achtend, über die Treppe und in diesem Augenblick meines Lebens bedauerte ich zutiefst, kein Mann der überschwänglichen Gefühle zu sein und schmerzhaft wurde mir bewusst, dass ich es nicht werden konnte, auch wenn ich es noch so wollte. Ich hätte mich wohl für immer lächerlich gemacht.
Sie sah atemberaubend aus, trug ein Kleid aus einem schwarzen, fliessenden, glänzenden Stoff, der sie umfloss, verhüllte, bei jeder Bewegung zeigte, wie sie gebaut war. Ich hätte ihr sagen wollen, wie schön sie war, wie sehr ich sie mochte, hätte sie bitten wollen, mit mir zu schlafen, meine Frau zu werden; doch die Erkenntnis, dass das Leuchten auf ihrem Gesicht nicht mir galt, war wie ein Messer ins Gekröse.
„Du siehst gut aus, Vic.“ „Danke, du auch.“ Ich nahm ihren Arm, führte sie über die letzten Stufen, sah oben auf der Galerie James erscheinen; „ich hasse hochhackige Schuhe, Rob, mir tun jetzt schon die Füsse weh. Man muss auch anders gehen, weisst du, man muss sich etwas nach hinten lehnen, um nicht zu stolpern. Aber dann geht man so wiegend.“ Aufrecht schritt sie an meinem Arm, warf einen schnellen Blick durch die offenen Flügeltüren, kurz nur blieb er an Sandra hängen und leicht, als habe sie Durst, fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich habe eine Frage an dich, Robert. Soll ich wiegen oder soll ich stolpern?“
„Hast du geraucht?“ „Natürlich nicht. Wenn, dann hätte ich jetzt schreckliche Kopfschmerzen und würde ganz tief schlafen. Ja.“ Fast unmerklich nickte sie, warf einen weiteren raschen Blick in die Runde, wieder blieb er kurz auf Sandra liegen, dann schaute sie zu mir. „Ich hätte es tun sollen und ich habe noch andere Fragen an dich, für später“, und sie entschloss sich zu wiegen. Leicht, als ginge sie barfuss durch den Sand, schob sie die Hüften vor, zielstrebig war James die Treppe herunter gekommen, nahm ihren anderen Arm, leicht, für einen Schritt nur; „was für ein schönes Kleid, Mrs. Tavares.“
Erneut sass sie zu meiner Rechten, still, als wolle sie sich unsichtbar machen, nippte nur manchmal am Wein und Ryan begann sie mit Fragen zu bombardieren. „Sie haben in Südamerika gelebt?“ „Ja.“ „In Brasilien, nicht wahr?“ „Ja.“ „Wo in Brasilien?“ „In São Paulo.“ „Mir ist unerklärlich, wie man an einem solchen Ort leben kann.“ Es hatte begonnen, Rebecca blies zum Angriff, und ungerührt, als habe sie als einzige nicht verstanden, galt Viktorias Interesse ausschliesslich dem Dinner, obwohl sie bisher kaum etwas angerührt hatte.
„Nun, Mrs. Tavares, wollen Sie uns nicht sagen, wie man an einem solchen Ort leben kann?“ Ruhig lag James‘ Blick auf ihr, er wartete, bis sie den ihren heben würde, doch sie liess ihn liegen. „Man kann fast überall leben. Hoheit.“ „Sie sind aber trotzdem zurück an den Busen von Mutter Helvetia.“ Ryan grinste, und erleichtert widmete sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. „Ich sage ja, leben kann man überall.“
„Man darf doch aber sicher davon ausgehen, dass das Leben in der Schweiz dem in einer dreckigen Hütte in Südamerika vorzuziehen ist, trotz der skandalösen Tatsachen, die über Ihr Land ans Licht gekommen sind. Beschämend das Verhalten der Schweiz im Krieg, finden Sie nicht auch, Mrs. Tavares?“ Sandras Stimme klirrte vor eisiger Geringschätzung, ebenso wie Rebeccas Lacher, der in indignierte Ausführungen über eine Fernsehdokumentation zum Thema überging, in Empörung über ein Sendeverbot in der Schweiz, und verwundert begann Viktoria sich zu bewegen. Sie konnte nicht widerstehen, es war ihr nicht gegeben. „Verboten?“ „Das habe ich gelesen. Der Film ist in der Schweiz nicht gezeigt worden.“ „Ist er doch, Diskussionsrunde inklusive. Wir sind einmal verhaftet worden, in Paraguay, und der Offizier auf dem Posten hatte in der Zeitung gelesen, dass die Schweizer Armee kein Geld mehr habe, um den Soldaten Schuhe zu kaufen. Man kann nicht immer alles glauben, was man liest.“
Rasch legte Lucie die Hand über den Mund, verbarg ihr Lachen, denn Rebecca sah aus, als hätte sie tatsächlich eine Kröte verschluckt. Zwei Finger an der Kehle rang sie nach Luft, Viktoria übersah, überhörte verärgert, sie hatte sich hinreissen lassen, und geradezu bebend vor Schadenfreude lehnte Ryan sich zu Rebecca, öffnete sein Maul, aber dann war es die kühle Stimme von James, die sprach. „Sie wurden verhaftet, Mrs. Tavares? In Paraguay? Das müssen Sie uns erzählen.“ Er sass mir gegenüber, und ich konnte ihn beobachten. Hören wollte er, sehen, wie sie sprach; er gab ihr Raum und ich fragte mich, wann sie vergessen würde, dass er nicht nur ein Mann war, der sie in Bewegung brachte, fühlte heisse Eifersucht in mir hochsteigen.
„Es ist keine interessante Geschichte, Hoheit.“ Nervös spielte sie mit dem Verschluss ihrer Uhr und verstohlen, wie ein kleines Mädchen, das verzweifelt hofft, nicht zu einer lächerlichen Darbietung genötigt zu werden, äugte sie zu mir. „Erzähl schon, Viktoria, was hast du aufgefressen in Paraguay?“ Aufmunternd grinste ich ihr zu, „oder traust du dich nicht?“ Sie lächelte verlegen, als schäme sie sich meiner dummen Frage; „ich habe nur ein grässliches Stück Pizza gegessen in Paraguay und ich bin dort nur hin gegangen, um mein Touristenvisum zu erneuern.“ „Der Brasilianer.“ Sie rutschte etwas hin und her, lächelte zu Ryan, „genau, und darum sind wir nach Paraguay. Das ist die nächste Grenze, bei Foz d’Iguaçu.“ „Bei den Fällen?“ „Ja! Kennen Sie sie?“ Sie hatte es vergessen, ich war überrascht, wie schnell es gegangen war; strahlend fiel ihr Blick auf James und dann erinnerte sie sich. „Hoheit?“ Er nickte. „Sie sind unglaublich. Unglaublich schön. Erzählen Sie weiter, Mrs. Tavares.“
Die Welle aus kaltem Hass, die jählings durch den Raum wogte, nahm mir fast den Atem und Viktoria sprach weiter, schnell und ganz auf Lucie konzentriert; „ja, also, ich musste Brasilien für vierundzwanzig Stunden verlassen und der Ort auf der anderen Seite des Flusses war ein ziemlich mieser Ort, ein Schmugglernest, und so fuhren wir weiter bis Asuncion, Capital , und dort wurden wir verhaftet, einfach so, mitten auf der Strasse.“ „Einfach so?“ „Ja. Wir wurden aufgehalten von einem“, sie hielt inne, sah mich fragend an, „ Esquadrão ?“ „Schwadron, Viktoria.“ „Ah ja, die Römer, blöd, also, von einem Schwadron Soldaten wurden wir aufgehalten und ich verstand kein Wort, von dem, was sie sprachen. Aber der Anführer war sehr böse auf Henrique und befahl einen Soldaten mit Maschinenpistole auf den Rücksitz unseres Autos.“ „Das ist nicht wahr?!“ „Doch.“ „Wie alt waren Sie damals?“ „Zwanzig, der Junge war höchstens achtzehn.“ „Und dann?“
„Ach, ich war sicher, er würde uns erschiessen. Er sagte Henrique, wie er fahren musste und wir kamen in eine sehr arme Gegend. Der Asphalt hatte aufgehört und die Strasse war voller Schlaglöcher und Wasserlachen, unglaublich heiss war es gewesen und feucht und alles, was ich je über südamerikanische Bananenrepubliken gehört hatte, lief Amok in meinem Kopf. Ja, ich habe wirklich Angst gehabt. Dann hielten wir vor einem Polizeiposten und Henrique sagte, ich solle im Auto bleiben, aber als der Junge bemerkte, dass ich nicht ausgestiegen war, kam er zurück, mit seinem Gewehr im Anschlag.“ „Was war es jetzt, Mrs. Tavares, ein Gewehr oder eine Maschinenpistole?“ Wie es ihm Spass gemacht hatte, sie in Bewegung zu halten; James versuchte gar nicht erst sein Interesse an ihr zu verbergen, warum hätte sich da mein Neffe Ryan zurückhalten sollen? Spöttisch schaute sie ihn an. „Etwas, das schiesst, eine Maschinenpistole, egal, ich bin ganz schnell ausgestiegen und er führte mich in das Haus, einen hohen Raum, schön kühl, achteckig, blau und grau getüncht, und an den Wänden standen lange Bänke. Sie waren voller Leute, die da einfach sassen und schwatzten.“
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