„Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie in dich hinein sieht, wenn sie dich anschaut? Beunruhigend irgendwie, und sie hat etwas Fremdes, etwas sehr Eigenes.“ Nur Spott hatte Ryan für eigenartige Fremde mit Röntgenblick, bei all dem Fels in der Schweiz sicher ganz nützlich; „und dann gibt’s bei mir auch nichts zu sehen. Doch was es geben könnte, mein Liebchen, tief in meinem Innern, das siehst nur du allein.“ „Ja, ich sehe einen Kindskopf. Nur befreundet also, Rob? Du bist kein bisschen verliebt in Mrs. Tavares?“„Lucie, die Frage ist nicht, ob Rob in sie verliebt ist, die Frage ist, ob sie in Rob verliebt ist. Mein lieber Onkel, wenn dem so ist, bist du verloren, für immer und ewig, und mit dir dein Titel. Stell sie Vater vor, es würde ihn umbringen.“ Ryan hatte grosse Mühe mit der Tatsache, dass mein Bruder hysterisch auf sämtliche Frauen reagiert, die mir auch nur nahe kommen könnten; ich lachte und zum nachhaltigen Befremden seiner Mitspieler warf James plötzlich die Karten auf den Tisch und stand auf.
„Ich will mit Richard sprechen. Begleitest du mich, Rob?“ Suchen gehen wollte er sie, wusste genau, wo er sie finden würde und unwillig, neugierig zugleich, folgte ich ihm. Ich hatte keinerlei Ansprüche, war nur befreundet, wie schon gesagt. Wir kamen die Treppen hoch, hörten Stimmen und Lachen aus ihrem Zimmer, ich stiess die Tür noch etwas auf und wir schauten hinein. Sie hockten auf dem Boden vor dem Kamin und spielten ein Spiel. Max, eine deutlich sichtbare Beule auf der Stirn, stapelte farbige Klötzchen zu bizarren Figuren, unterbrach sich immer wieder, um sich fest an seine Mutter zu drücken. Wärme schien sie alle einzuhüllen, ausgehend von dem Feuer vielleicht, vielleicht auch von der Frau, die mit dem Rücken zu uns im Schneidersitz am Boden sass, und nur zu gern wäre ich eingetreten in diesen Dunstkreis kindlichen Vergessens der Welt über einem Spiel; aber James rührte sich nicht von der Stelle und so blieb ich draussen. Viktoria zog eine Karte.
„Mist!“ „Das schaffst du nie, Vicky“, Michael krähte, „niemals! Der ist auf der anderen Seite.“ Sie schob Max etwas von sich, setzte sich aufrecht, „ich versuch’s.“ „Du verlierst! Darauf wette ich. Richard?“ „Ich auch.“ Sami rutschte etwas näher, sie übersetzte und ihren Protesten zum Trotz schloss er sich den Jungen an. „Ihr wollt mich also verlieren sehen. Kein Problem“, und James trat ein in den Kreis, der zerstob und zerfiel, ungerührt über die Unruhe, die er verbreitete, zog er sich einen Stuhl heran, bat Michael ihm die Regeln des Spiels zu erklären.
„Sie haben die Wette angenommen, Mrs. Tavares?“ Ich hatte gesehen, wie ihr Nacken steif, ihre Schultern starr geworden waren bei seinem plötzlichen Erscheinen, ganz offensichtlich mochte sie nicht, dass er sie ansprach, rutschte nervös hin und her, die Augen stur auf das Spielbrett gerichtet. „Ich wette nur, wenn ich sicher bin, dass ich gewinne. Hoheit.“ „Und das ist hier nicht der Fall?“ „Nein.“ „Sie könnten sich irren, Mrs. Tavares.“ Ruhig auf einmal legte sie die Hände in den Schoss, hob den Blick. „Ja“, sagte sie und mit einem plötzlichen Schmerzensschrei stiess sie Max von sich, rieb sich aufgebracht den Arm; erneut nahm er Anlauf, wie Klammern legte sie die Arme um ihn, stand auf und wutentbrannt brüllte er los. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Mit dem schreienden Kind unter dem Arm ging sie in Richtung Schlafzimmer, sprach leise auf ihn ein, „schrei du nur, capeta , das ist mir ganz egal, schrei du nur“, und verschwand im Zimmer.
Über alle Massen erstaunt starrte James auf die geschlossene Tür, richtete dann eine steinerne Miene auf seine Söhne. „Wie alt ist das Kind?“ „Max ist drei, und das war ein Biss aus Liebe.“ „Was war das?“ „Es heisst, ich habe dich zum Fressen gern.“ „Ist das so?“ Um Fassung bemüht, nicht genau wissend, wie er reagieren sollte, sass James da und die Spannung, die sich in Viktorias Schrei entladen hatte, baute sich erneut auf; unsicher standen die beiden Jungen vor ihrem Vater und ich empfing stumme Hilferufe.
„Sami? Was heisst Capeta ?“ Er kam zu mir, zögernd und auf Umwegen, wie es seine Art war, aber er kam, mochte mich, auch wenn ich sein Body-Board kaputt gemacht hatte in Brasilien. Ich war auf den Strand aufgelaufen, war wohl zu schwer gewesen und es hatte einen Riss bekommen. „ Capeta heisst kleiner Teufel.“ „Was ist los? Was sagt ihr?“ „Ich wollte wissen, was Viktoria zu Max gesagt hat. Ich hatte ein Wort nicht verstanden.“ „Welches Wort?“ „ Capeta .“ „Und was heisst das?“ „Kleiner Teufel.“ Die Worte vor sich hin murmelnd wurde Sami hastig von Michael fortgezogen vor der drohenden Zurechtweisung über diesen unbekümmerten Umgang mit Fremden, und mit einem leisen Seufzer wandte sich James an seinen Ältesten.
„Ich reite morgen aus, Richard, und ich möchte, dass du mich begleitest.“ „Muss ich denn mitkommen, Dad? Wir wollten eigentlich zu den Steinen.“ „Wer ist wir?“ Ganz sein altes, kühles Selbst musterte er seinen Sohn; „wir haben einiges zu besprechen, Richard, und ich möchte, dass du mich begleitest. Ich habe dir schon erlaubt, vom Tee fernzubleiben.“ „Vom Dinner auch, Dad. Bitte!“ „Sami“, die Schlafzimmertür war aufgegangen, mit einer Hand konnte sie Max gerade noch festhalten, „du bleibst hier. Sami!“ Er fing an zu jammern, erhielt augenblicklich Unterstützung von Michael und sich gegenseitig in der fremden Sprache nachahmend, bettelten sie um fünf Minuten. Ergeben hob Viktoria die Hände, prompt wollte Max sich aus dem Staub machen und sie erwischte ihn an seinem Pyjama, „du bleibst hier. Fünf Minuten.“
Nicht aus den Augen hatte James sie gelassen. Bis die Tür sich wieder schloss, hatte er unbeweglich dagesessen, sie beobachtet, während Richard sämtliche Sensoren ausfuhr. „Viktoria kann nicht reiten, Dad. Ich habe ihr von den Steinen erzählt, aber heute war keine Zeit mehr, um hinzugehen.“ „Du hast Mrs. Tavares versprochen, sie zum Steinkreis zu begleiten?“ „Ja, eigentlich schon. Wir wussten ja nicht, dass du kommst.“ „Und das Versprechen, das du einer Dame gibst, gilt natürlich mehr als der Wunsch deines Vaters.“ Richard hob den Kopf, „kommst du mit, Dad?“ „Ich werde es mir überlegen. Michael, ich glaube, die fünf Minuten sind um.“ Nach einem Blick auf seinen Vater unterbrach Michael widerspruchslos sein Spiel und wünschte Sami gute Nacht. Ich ging zur Schlafzimmertür, klopfte, Viktoria öffnete, blieb unter der Türe stehen, auch als Max zwischen ihren Beinen hindurch entwischte, sich auf Richard stürzte, der ihn hoch hob, Schreihals nannte; „ich erwarte dich um halb zehn, Vic.“ Sie nickte, lächelte zerstreut, wiederholte, als sei sie die Zeitansage, nahm Max aus Richards Armen und schob sich Stück für Stück zurück in ihr Schlafzimmer.
„Onkel Rob? Heiratest du Viktoria? Weil, wir könnten sie dann öfters sehen. Sie ist eine nette Mutter, und sie hat keinen Mann mehr. Hast du das gewusst?“ „Ja, das habe ich gewusst. Ich glaube aber nicht, dass ich sie heiraten werde. Hat sie dir erzählt, dass sie keinen Mann mehr hat?“ „Nein, das war Sami. Warum heiratest du sie nicht?“ Ohne das leiseste Interesse an einer Antwort liess er meinen Arm los, hängte sich an James, „aber dann kannst du sie ja heiraten, Dad“, und aufseufzend, als lägen grosse Lasten auf seinen kleinen Schultern, liess er los, trottete mit hängendem Kopf neben uns her; „aber das geht ja wohl nicht.“Das ging nicht, nein, war ausgeschlossen, völlig undenkbar. Ich warf einen Blick zu James, ungerührt wurde er erwidert; und ich überliess ihn seinen Söhnen, zog mich zurück, wollte Ruhe, um Ordnung in meine Gedanken über den unerwünschten Verlauf dieses Wochenendes zu bringen. Viktoria würde Beistand nötig haben, wenn sie alle, mit James vorneweg, zur Jagd auf sie bliesen, so viel war sicher; ich hatte sie zu schützen, sie war mein Gast und wir nur befreundet, wie ich gesagt hatte.
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