»Was wollte Mrs. Baker noch mal haben?«, spielte Gerry das Spiel mit.
»Ganz ordinäre Auberginen. Aber du konntest ja nicht mal eine Kartoffel von einer Karotte unterscheiden. Was Essen anging, warst du damals ein echter Kretin.« Abermals lachte Taio laut. Diesmal eine Spur natürlicher. Selbst Gerry musste bei dem Gedanken an die eierförmige, violette Frucht spontan lächeln. Hätte Mrs. Baker keinen Oberschenkelhalsbruch gehabt, wüsste er vermutlich immer noch nicht, was Auberginen sind.
»Was warst du doch für ein Glückspilz, dass du ausgerechnet mich um Hilfe gebeten hast. Du würdest noch heute ein ahnungsloser, kulinarischer Banause sein«, zog Taio ihn auf.
»Ein toter Banause«, ergänzte Gerry im Geiste und griff sich an den Hals. Ein Schwall Magensäure bahnte sich seinen Weg durch die Speiseröhre und hinterließ einen ätzenden Geschmack.
Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er, dank Taio, seinen neunundvierzigsten Geburtstag noch erleben würde, ob es ihm gefiel oder nicht. Warum, zum Henker, war sein Freund und Koch an diesem Samstag zu früh nach Hause gekommen? Taio besaß offenbar ein unbewusstes Gespür für sich anbahnendes Unglück.
Für einen Moment herrschte bedrückende Stille. Das allgemeine Schweigen drohte unerträglich zu werden, als Ruth sich zu Wort meldete.
»Taio, wärst du so nett und holst mir einen Becher Kaffee? Am Ende des Ganges habe ich einen Automaten gesehen, meine ich jedenfalls.« Der gebürtige Westafrikaner sah seine Freundin fragend an, sagte aber nichts und verließ das Krankenzimmer. Gerry war sofort klar, dass Ruth ihn alleine sprechen wollte. Doch ihm war nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken. Vermutlich würde sie die Gelegenheit nutzen, um ihm entsetzliche Vorwürfe zu machen. Er fühlte sich mit einem Mal furchtbar klein.
»Weißt du eigentlich, dass ich nur wegen dir in der Pfandleihe angefangen habe, Gerry?« Gerry schluckte. Das fing ja gut an mit den Vorwürfen. Nicht nur der Kloß, der sich erneut in seinem Hals bemerkbar machte, hinderte ihn daran, etwas zu erwidern.
»Vier Jahre ist das jetzt her, seit du mich damals in der Kirche angesprochen hast«, fuhr sie fort. Noch immer fehlten ihm die Worte. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber kein Ton kam heraus. Worauf wollte sie hinaus?
»Ich war zwar damals tatsächlich auf Jobsuche«, gab Ruth zu und strich sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht, »doch der wahre Grund für meine Zusage war, dass du mich vom ersten Augenblick an fasziniert hast.«
Als sie Gerrys hohlen Blick bemerkte, ergänzte sie: »Ehrlich, du und deine schüchterne Art, die passen so gar nicht zu deinem Äußeren.« Sie hielt inne und biss sich auf die Unterlippe.
»Ich hab mich durch deine Frage geschmeichelt gefühlt. Ich dachte echt, du wolltest mich anmachen.« Gerry schnappte nach Luft. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Gedanken überschlugen sich. Was wollte sie ihm sagen? Dass ihr etwas an ihm lag? Etwas, das über Freundschaft und Kollegialität hinausging? Er setzte zu einer Erklärung an, doch Ruth kam ihm zuvor.
»Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass du meine Gefühle nicht erwiderst, dass mehr als Freundschaft nicht drin war. Du warst und bist so sehr mit dir und deiner Vergangenheit beschäftigt, dass da nie Platz für jemand anderes sein wird.« Bei den letzten Worten senkten sich ihre Schultern und sie sah noch kleiner und zerbrechlicher aus als zuvor.
»Ich, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Ruth. Ich wollte nicht…«, hörte Gerry sich selbst krächzen. Er ballte eine Faust und hielt sie sich vor den Mund.
Nie im Leben hätte er sich vorstellen können, dass es auf dieser Welt eine Frau gab, die sich auch nur im Entferntesten für ihn als Mann interessierte.
»Du musst gar nichts sagen, Gerry«, winkte sie ab. »Ich hatte mir eigentlich geschworen, dir das nie zu erzählen. Also hör einfach nur zu!«
»In Ordnung«, gab er kleinlaut zurück.
»Selbst, wenn aus uns nichts geworden ist und auch niemals werden wird, eines möchte ich, dass du weißt. Du bist nicht alleine. Du bist mir wichtig und du kannst immer auf mich zählen. Genauso wie auf Taio.« Sie schaute ihm geradewegs in die Augen.
Meinte sie das wirklich ehrlich oder steckte etwas anderes dahinter? Vielleicht der Versuch einer geschickten Manipulation? Indem sie in ihm die Hoffnung einer gemeinsamen Zukunft weckte, obwohl sie es gar nicht ernst meinte. Nur, damit er von weiteren Selbstmordversuchen absah. Wäre Ruth dazu fähig? Noch vor wenigen Augenblicken hätte er ihr dergleichen niemals zugetraut. Doch jetzt war er plötzlich unsicher. Obwohl sie schon etliche Jahre zusammenarbeiteten, musste er sich eingestehen, dass er sie im Grunde gar nicht genug kannte.
Forschend sah er sie an und versuchte, die wahren Motive der Freundin zu ergründen. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und Taio kam herein. In der Hand trug er einen Plastikbecher. Der Duft von frischem Kaffee wehte herüber.
»Ich habe dir den Kaffee mit Milch und Zucker mitgebracht«, platzte er in die Unterredung. »Ich hoffe, das war richtig. Du hast dich ja nicht genauer geäußert, Ruth.«
»Schon in Ordnung, Danke!«, erwiderte sie und warf Gerry einen verschwörerischen Blick zu, der so viel sagte wie: »Ich hoffe, du hast mich verstanden.«
Taio reichte ihr den Becher, nahm Platz und räusperte sich verlegen. Sein Blick wanderte unschlüssig von Gerry zu Ruth und wieder zurück.
»Weißt du schon, wann du raus darfst?«, bemühte er sich, das Gespräch wiederaufzunehmen.
»Morgen früh, aber ich muss direkt nach Fort Worth zur Weiterbehandlung. Ich hab einen Termin um halb zwölf.«
»Ich kann dich fahren, wenn du willst«, bot Taio hilfsbereit an.
»Danke dir, nicht nötig. Ich habe einen Transportschein vom Krankenhaus bekommen. Vermutlich wollen die sichergehen, dass ich auch wirklich hinfahre.«
Taio wirkte im Vergleich zu Ruth wesentlich gefasster. Er schien, zumindest äußerlich, mit der Situation besser klarzukommen. Noch vom Zimmer aus organisierte er mit dem Handy einen Wagen für Gerrys Abholung am Folgetag. Sogar eine Liste mit Verhaltensregeln für die kommenden Wochen ließ er sich von der Schwester zusammenstellen. Er würde sich zweifelsfrei darum kümmern, dass Gerry zu seinen Sitzungen ging und seine Entspannungsübungen machte.
Just, als Ruth und er aufbrachen, brummte Taios Handy. Er zögerte einen kurzen Moment, das Telefonat mit unterdrückter Nummer anzunehmen, meldete sich dann aber doch.
»Contée hier.« Am anderen Ende wurde unüberhörbar geantwortet. Trotz der Lautstärke, oder gerade wegen der Brüllerei, konnte man nur undeutliche Wortfetzen aufschnappen. Für Gerry reichte es aber aus, um zu erkennen, wer dran war. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Herzschlag beschleunigte sich, was auf dem Vitaldatenmonitor deutlich Wirkung zeigte. Dieser lallende Singsang, dieser aggressive Wortausstoß. Wenn man diesem Subjekt am Telefon in Persona gegenüberstand, wurde man ständig in einem Wortschwall aus polemischen Schimpftiraden ertränkt und mit tausenden mikrofeinen, alkoholschwangeren Speichelperlen übersät. Am Apparat war niemand anders als sein Vater, Bruce.
Seit Minuten starrte Gerry auf das B.J. Pawn. Der Eingang war von der Straße aus gut zu sehen. Es brannte kein Licht im Geschäft, und das Schutzgitter des Pfandhauses war nicht heruntergelassen. Das konnte nur bedeuten, dass Bruce im Laden genächtigt hatte. Vermutlich, wie schon so oft, im Halbdelirium. Schaufenster und Eingangstür forderten regelrecht jeden Plünderer und Einbrecher der Stadt auf, sich zu bedienen. Ein Ziegelstein als Einbruchswerkzeug hätte dazu völlig ausgereicht.
Gerrys Finger wurden beinahe taub, so fest krallte er sie in das Lenkrad. Die heutige Nacht mit eingerechnet, war das schon das vierte Vorkommnis dieser Art innerhalb von drei Monaten. Bruce hatte wahrscheinlich, wie üblich, seinen Kummer in seiner Stammkneipe ertränkt und sich danach nicht mehr nach Hause getraut. Um den Vorwürfen seiner gegenwärtigen Lebensgefährtin, Molly, zu entgehen, flüchtete er sich nachts lieber ins Pawn.
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