etwas ausgelaufen? Zumindest lief sein Plan besser als erwartet. Eine weitere Apotheke oder ein Drugstore und er hätte alles, was er brauchte. Sicher, der Verkäufer hatte etwas seltsam geschaut, doch wirklich misstrauisch war er nicht geworden.
Eine Türglocke erklang. Hinter ihm betraten einige neue Kunden den Laden. Mehrere Stimmen redeten wirr durcheinander. Nervös trat Gerry von einem Fuß auf den anderen. Oder machte er sich was vor? Telefonierte der Mann womöglich hinten im Laden bereits mit der Polizei und meldete einen Verdacht?
»Das macht insgesamt neunundsiebzig Dollar. Zahlen Sie mit Kreditkarte?«, hörte er den Apotheker plötzlich fragen. Dieser war unbemerkt mit einem Korb unter dem Arm zurückgekehrt und hatte, während Gerry in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen war, begonnen, die einzelnen Schachteln in einer Papiertüte zu verstauen.
»Nein, ich zahle bar«, entgegnete Gerry etwas zu hastig und erntete dafür erneut einen überraschten Blick seines Gegenübers.
»Natürlich, wie Sie wünschen.« Irgendetwas in der Stimme des Mannes ließ ihn innehalten. Es zwang ihn, den Kopf zu heben.
Gerry erschauderte. Es war, als würde der Mann geradewegs in seine Seele blicken. Nein, da war noch mehr. Glühten die Augen des Verkäufers etwa? Sein Unwohlsein wuchs mit jedem Atemzug. Die Muskeln in seinem rechten Arm zuckten wie wild. Auch das Geräusch in seinen Ohren piepste schlagartig unregelmäßiger und schneller. Was stimmte hier nicht? Das Weiß in den Augen des Apothekers wurde immer mehr zu einem Gleißen, das alles überstrahlte. Gerry musste blinzeln, um nicht geblendet zu werden. Doch es half nichts. Er konnte seinen Blick nicht abwenden und von Sekunde zu Sekunde wurde das Leuchten greller. Nur mit großer Anstrengung, die ihn an den Rand der vollständigen Erschöpfung brachte, schaffte er es, die Augenlider endlich zu schließen. Eine willkommene Dunkelheit und absolute Stille umhüllten ihn.
Dann blitzte es plötzlich. Ein langer und greller Blitz ohne Donner. Gewitter? Aber es schien weit entfernt zu sein. Er weigerte sich, die Augen wieder zu öffnen. Sollte der Kerl doch jemand anderen anstarren. Seine Gedanken drifteten orientierungslos umher. Ihm war kotzübel. Alles schien sich zu drehen. Hilflos wurde er von wirren Erinnerungen übermannt. Es blitzte erneut. War überhaupt Gewitter angekündigt? Träge fügten sich die Bilder wie bei einem Puzzle zusammen. Ginger, die Wetterfee von Good morning America , hatte kein Unwetter vorhergesagt. Höchstens leichten Schneefall für Dallas.
Er tastete matt mit der rechten Hand nach seinem Hals. Das Schlucken fiel ihm schwer, in seiner Kehle schmeckte es auf einmal wie rohes Fleisch. Der Arm ließ sich nur unter brennenden Schmerzen bewegen. Allein der pure Versuch ermüdete ihn dermaßen, dass er sofort wieder wegdämmerte.
Dann nahm er auf einmal unbekannte Geräusche und einzelne Worte wahr. Es klang wie eine dieser Arztserien aus dem Fernsehen. Wie bin ich nach Hause gekommen? Oh Gott, habe ich vergessen, die Flimmerkiste abzuschalten? Ein Gedanke, der erneut seinen Puls beschleunigte. Mahnend schlichen sich weitere Gedanken heran. Stromkosten, Staub, der sich im alten Röhrengerät entzündet, immer noch keinen Rauchmelder gekauft zu haben, Mrs. Bakers Schlaf zu stören.
»Doktor, wir haben keine Kenntnis über das eingenommene Präparat. Die Verwendung eines Antidots könnte kontraindiziert sein.«
»Wie ist die Sauerstoffsättigung?«
»Ich mach ihn schnell aus«, dachte Gerry benommen, doch bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, wurde aus dem Grau seiner Wahrnehmung erneut Schwarz. Ein weiterer Blitz durchzuckte die Dunkelheit. Dieses Mal verweilte er schmerzhaft auf seinem Sehnerv. Gerry kniff die Augen fester zusammen und versuchte der unangenehmen Helligkeit zu entgehen. Jetzt wurde der Blitz sogar von einem Donner begleitet. Das Grollen des Unwetters schwoll an. Aus einer undefinierbaren Richtung mischten sich andere, ungewöhnliche Geräusche hinzu. Der Piepston war wieder da und dazu ein seltsames Schnarren.
Gerry spürte benebelt die Anwesenheit einer Person. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes hörte er Stimmen. Plötzlich wurde sein rechtes Auge berührt und das Lid nach oben gezogen.
»Reguläre Miosis«, sagte jemand. Seine Pupillen implodierten bis auf Nadelstichgröße. Der Blitz haftete auf ihnen, wie ein unbarmherziger Laserstrahl.
»Mr. Jester?«, hörte er, wie durch einen Gehörschutz gedämpft, seinen Namen.
»Mr. Jester, können Sie mich verstehen?« Von Panik ergriffen, versuchte Gerry, sich aufzurichten. Drehschwindel und ein Übelkeit verursachender, saurer Geschmack im Mund waren die Folge. Das Licht erlosch abrupt. Kräftige Hände packten ihn und drückten ihn zurück in das Kissen.
»Ganz ruhig, Mr. Jester. Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte eine männliche Stimme. Selbst das leichte Kopfschütteln verursachte unangenehmen Schwindel.
»Mr. Jester! Sie sind im Arlington Memorial. Mein Name ist Dr. Spellman.« Gerry versuchte, etwas zu erwidern, aber sein Mund formte nur tonlose Worte.
»Ich kann Sie nicht verstehen. Bleiben Sie ganz ruhig! Ihr Kehlkopf ist angeschwollen, das ist ganz normal. Wir mussten eine Magenspülung durchführen. Das EKG…«
Die Lautstärke der Worte schwankte und sie ergaben zunehmend weniger Sinn. Schleichend verschwand alles in einem warmen Nebel.
Als Gerry das nächste Mal aufwachte, war er allein. Die Beleuchtung des Zimmers war angenehm gedämpft. Im Gegensatz dazu waren seine Gedanken wieder hell und klar. Er erinnerte sich schlagartig an alles.
Er lebte! Und das hieß, er hatte versagt - erneut!
Der Anruf hinterließ ein mulmiges Gefühl in Haruki Satos Magengegend. Bisher war sein Job immer reine Routine gewesen. Und jetzt das! Security-Awareness-Meeting um fünfzehn Uhr in Raum Berlin. Das hatte die Sekretärin mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme befohlen. In den Besprechungsräumen mit Namen bekannter Hauptstädte fanden ausschließlich Sitzungen des Board-of-Directors statt. Genaugenommen hatte dort jemand in seiner Stellung nichts verloren. Das konnte nur eins bedeuten - Eskalationsbericht vor dem Gesamtvorstand.
»In allen Dingen hängt der Erfolg von den Vorbereitungen ab«, zitierte Sato im Kopf eine alte Zen Weisheit, aus dem Land seiner Vorfahren, während er den Fortschritt der laufenden Auswertungen ein weiteres Mal kontrollierte. Analysejobs durchforsteten die Logdateien und spuckten im Minutentakt Berichte aus. Zwar konnte er in der Kürze der Zeit nicht besonders viele Details über die Episode WW2/35 in Erfahrung bringen, aber je mehr Daten er sammeln würde, desto besser.
Bloß keinen inkompetenten Eindruck hinterlassen, keine nicht belegbaren Schlussfolgerungen präsentieren und, so gut wie möglich, für alle etwaigen Fragen gerüstet sein. Wenn man dem Flurfunk Glauben schenken durfte, konnten selbst Nichtigkeiten zur Entlassung führen. Ein Gedanke, der nicht unbedingt Mut machte.
Sato begab sich auf den Weg. Die Aufzugstür zischte leise, als sie den Blick in die Vorstandsetage freigab. Der Unternehmensführung eilte der Ruf voraus, stets exzellent über die Entwicklungen im Konzern auf dem Laufenden zu sein. Hastig wischte er sich mit dem Handrücken eine feuchte Stelle von der Oberlippe.
Durch eine gewaltige Schallschutztür betrat er den, ganz in Glas und mattem Aluminium gehaltenen, Raum. Eingeschüchtert von den enormen Ausmaßen des Saales, zog er unwillkürlich den Kopf ein und seine Schultern verspannten sich.
Überlebensgroße Konterfeis berühmter Wissenschaftler und Persönlichkeiten beherrschten die wenigen Wände. Im Vorübergehen identifizierte er Albert Einstein , Marie Curie und Martin Luther King auf den gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Fotographien. Einige der anderen dargestellten Personen waren ihm dagegen unbekannt.
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