Grenzen der Beobachtung und Berichte der Akteure
Teilnehmende Beobachtung ist gut geeignet, um einen Einblick in Abläufe, Verhaltensweisen, Einflussfaktoren und die Dynamik des Untersuchungsgegenstandes zu bekommen. Gerade die Analyse des Einstiegsprozesses und das mögliche „Befremdet-Sein“ können Selbstverständlichkeiten, Aushandlungs- sowie Routineprozesse offen legen (vgl. Flick 1995, 154). Auch die nonverbale Kommunikation, die gerade auf dem Drogenstrich ganz entscheidend ist, lässt sich nur durch genaues Beobachten untersuchen. Jedoch lassen sich nicht alle Phänomene beobachten. Allein räumlich und zeitlich können nur Ausschnitte der sozialen Realität erfasst werden. Beispielsweise konnte ich häufig kurze Kontakte zwischen Drogenprostituierten und Freiern verfolgen, die dann wieder auseinander gingen. Die konkrete Interaktion lässt sich nur vermuten aber nicht genauer beobachten. Deshalb war es nötig, die Hintergründe und die konkrete sprachliche Kommunikation in Interviews zu erfragen.
Interviews sind Berichte über das Geschehen, mit ihnen lassen sich „die Konzepte der Teilnehmer über ihre Kultur, aber nicht der alltagskulturelle Vollzug selbst erleben“ (Helga Kelle 1997, 203). So ist Alltagshandeln zu beobachten, das häufig unbewusst und auf Nachfragen hin von den Beteiligten sprachlich nicht verfügbar ist, „weil sie es im Modus des Selbstverständlichen und der eingekörperten Routine haben“ (Amann/Hirschauer 1997, 24). Die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sowie die dahinter verborgenen Sinnebenen sind in der Regel nicht vollständig zugänglich, sodass sie weder befriedigend beschrieben noch erklärt werden können.
Die Kontakte zu den Frauen, die ihren Drogenkonsum vorwiegend durch Prostitution finanzieren, knüpfte ich über Mitarbeiterinnen der Druckräume. Dadurch wurde natürlich eine gewisse Vorauswahl getroffen: Welche Frauen könnten etwas zum Thema sagen? Wie gesprächsbereit sind sie und können sie die Zeit des Gesprächs durchhalten? Sicher wurde mit dieser Vorgehensweise eine bestimmte Gruppe Frauen ausgewählt: meist schon etwas ältere Frauen mit jahrelanger (mehr oder weniger phasenweiser) Drogen-, Szene- und Prostitutionserfahrung, die die Angebote der sozialen Einrichtungen wahrnehmen. Diese Frauen entsprachen in der Regel nicht dem oft in verschiedenen Medien zu findenden Bild der „fertigen Junkiehure“.
Insgesamt standen mir 15 Interviews mit Prostituierten zur Verfügung. Außerdem führte ich Experten-Interviews mit einer Streetworkerin und zwei leitenden Polizeibeamten, um einen Einblick in die Positionen der Verwaltungsinstitutionen zu bekommen, die wesentlich am Alltag der Drogenprostituierten beteiligt sind. Die befragten Drogenprostituierten waren zwischen 20 und 40 Jahren alt, die meisten Ende 20/Anfang 30. Dementsprechend bewegen sich auch die Zeiten ihrer Drogen- bzw. Szeneerfahrungen zwischen drei und 20 Jahren. Mit der Prostitution haben die meisten erst zu einem späteren Zeitpunkt begonnen, es sei denn, sie arbeiteten bereits vor ihrem kompulsiven Drogengebrauch oder unabhängig davon als Prostituierte in einem Bordell oder einer Bar. Bis auf vier Frauen, die eine eigene Wohnung hatten bzw. bei ihren Eltern lebten, waren zum Interviewzeitpunkt alle wohnungslos oder in einer sozialen Einrichtung untergebracht.
Sicherlich gibt es auch andere Formen von Drogenprostitution: Frauen, die sozial eingebunden sind, eine eigene Wohnung haben, kontrolliert konsumieren, arbeiten gehen und sich mit Prostitution zusätzliches Geld für Drogen verdienen oder als „Professionelle“ in Bordellen arbeiten, müssen sich anders organisieren und sind anderen Einflussfaktoren ausgesetzt als den hier beschriebenen. Insofern stellen die interviewten Frauen möglicherweise eine spezielle Gruppe Drogenprostituierter dar – nämlich die öffentlich sichtbaren.
In der Interviewsituation mit den Drogenprostituierten war es sicherlich von Vorteil, ihnen als Frau gegenüber zu sitzen. Männliche Interviewer konnten doch immer als potentielle Freier erscheinen. Meine Beobachtungserfahrungen trugen zu einem immerhin möglichen gemeinsamen Blickwinkel bei. Gleichzeitig konnte ich meine eigenen Wahrnehmungen im Feld überprüfen. Beobachtung und Interviews ergänzten sich also, so dass beide Methoden ein zunehmend differenziertes Bild über das Geschehen auf dem Drogenstrich ermöglichten.
Teilweise wurden die Frauen sehr nachdenklich, Erinnerungen kamen auf. Das war manchmal auch mit Tränen verbunden. Meine Interviewpartnerinnen erwiesen sich gleichwohl als kompetente „Situationsgestalterinnen“. Sie sprachen von dem, was sie glaubten, mir anvertrauen zu können. Die Bedenken, die Gersch et al. (1988, 6) zu Beginn ihrer Studie äußern, dass man nicht davon ausgehen könnte, die Frauen seien bezüglich ihrer Prostitutionserfahrungen so reflektiert, dass man sie ohne weiteres befragen könne, kann ich nicht bestätigen. Es hing von der konkreten Situation und der Person ab, was und wie die Frauen erzählten. Sie konnten ohne weiteres bestimmen, wie weit sie das Thema an sich heranließen.
Die Basis für die Beschreibung der Interaktionsprozesse auf dem Drogenstrich bilden demnach die Interviews und die Beobachtungsprotokolle. Mein eigenes Vorwissen und bestimmte im Gedächtnis verhaftete Szenen und Erlebnisse spielen bei der Interpretation ebenfalls eine wichtige Rolle. Was die Prostitutionskunden betrifft, kann ich nur auf die eher zufälligen Zusammentreffen zurückkommen. Einige Gesprächssequenzen habe ich aufgenommen. Die Versuche, über die Interviewpartnerinnen zumindest an deren Stammfreier heranzukommen, scheiterten. Zwar sahen die Frauen in meinem Anliegen kein Problem, zur Umsetzung kam es aber nicht.
Bei der Auswertung des Materials orientiere ich mich an den beobachtbaren Vorgängen und dem daraus abzuleitenden Prozess, der sich nach einiger Zeit abzeichnete. Ein sechsstufiges Phasenmodell soll die Erfassung der Vorgänge und die Darstellung der Interaktionsprozesse erleichtern. Die verwendeten Interviewpassagen dienen vorwiegend der Vergegenständlichung und Illustration der geschilderten Vorgänge. An einigen Stellen lasse ich die Frauen selbst sprechen, da sie in bestimmten Momenten aus ihrer subjektiven Sicht die Lebenswelt „Drogenprostitution“ am besten beschreiben können. Auf Interviewausschnitte, an denen sich Prozesse und Hintergründe besonders gut aufzeigen lassen, gehe ich ausführlicher ein. Die jeweilige Verwendung dürfte aber beim Lesen erkennbar werden. Die Namen der Interviewpartnerinnen habe ich geändert.
8Die anschließende Führung lässt sich auf dem Lageplan im Anhang verfolgen.
9Das dürfte insbesondere den Frauen so ergehen.
10Für sie können sich allerdings andere Probleme ergeben, wie z.B. die Abgrenzung von Freiern bzw. von der Zuschreibung, ein solcher zu sein.
11Offene Beobachtung im Sinne von sich sichtbar im Forschungsfeld zu bewegen, aber nicht als eine für alle Teilnehmenden klare und offensichtliche Tätigkeit.
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