Während in der Kaiserstraße gerade aufgeräumt wird und kaum noch etwas los ist, sind die Schwerpunkte des nächtlichen Treibens die Taunus-, Elbe- und Moselstraße. Besonders konzentriert es sich an den Straßenkreuzungen, vor einigen Bordelleingängen oder Kneipen. Vor dem Druckraum des DND sind viele Menschen versammelt. Etwas weiter abseits stehen Türsteher oder Prostituierte etwas gelangweilt in den Eingängen. Vor dem Café Fix liegen bergeweise Reste von Spritzenpackungen. An vielen Stellen wird unser Schritt wegen des aufdringlichen Uringestanks unweigerlich schneller. Einige Polizisten beschäftigen sich gerade intensiv mit einem Mann, zwischendurch fährt das eine oder andere Polizeifahrzeug durch die Straßen oder steht auf Beobachtungsposten. Die Mitarbeiter einer sozialen Einrichtung, die sich in einem Industriegebiet abseits des Bahnhofsviertels befindet, sammeln in ihrem Bus Leute für das Nachtquartier ein.
Auf dem Straßenstrich in der Weserstraße ist außer einer Frau und den immer wieder Runde für Runde fahrenden sowie scheinbar ziellos herumschlendernden Männern niemand zu sehen. Dagegen stehen in der Elbe- und Taunusstraße einige Frauen, die wohl gerade anschaffen sind. Eine verhandelt mit einem Freier, der vorher schon etliche Runden auf seinem Motorrad gedreht hat. Fünfzig Mark, wie wir im Vorbeigehen mitbekommen, scheinen ihm zu viel zu sein. Auffallend ist, dass im Gegensatz zum Tagesgeschehen keine Prostituierten in den Eingängen der Videokabinen stehen. Vielleicht liegt das aber auch an den sommerlichen Temperaturen.
Frauen, die sich um diese Zeit im Viertel aufhalten, gibt es im Vergleich zur Anzahl der vorbeifahrenden oder -gehenden Männer, auffallend wenige. Sie sind bis auf einige Ausnahmen für die Anwesenden klar entweder der Drogenszene oder den Sex-Shows und Bordellen zuzuordnen. Und warum sollten sie sich sonst dort „herumtreiben“? Die Verhältnisse scheinen also für die meisten Männer klar, was man ihren Blicken und Worten entnehmen kann. Deswegen trollen wir uns, es reicht für heute.
Die beschriebenen örtlichen Gegebenheiten bilden den geographischen Rahmen des Geschehens, das ich genauer untersuchen möchte. Sie bilden nicht nur die Kulisse für Prostituierte und Freier auf dem Drogenstrich und vermitteln zusammen mit den dort Anwesenden eine besondere Atmosphäre, sondern markieren den Rahmen bestimmter lokaler Praktiken, die eine eigene „kulturelle Ordentlichkeit“ konstituieren (Klaus Amann/Stefan Hirschauer 1997, 20).
Wie nun lässt sich dieser Forschungsgegenstand in seiner Besonderheit und seinen eigenen Strukturen entdecken? Wie lassen sich die Mechanismen und Routinen, mittels derer die Handelnden dort zusammenfinden und kommunizieren, herausfinden und rekonstruieren? Statt das Für und Wider verschiedener Forschungsmethoden und methodologische Zusammenhänge zu diskutieren (vgl. dazu Uwe Flick (1995, 1998), Barbara Friebertshäuser/Annedore Prengel (1997), Anne Honer (1989) oder Amseln L. Strauss (1991)), möchte ich mein Vorgehen sowie die spezifischen Merkmale und Schwierigkeiten in einem solchen Milieu zu forschen, schildern, um den Forschungsprozess und die Ergebnisse nachvollziehbar zu machen.
Als Forscherin im Milieu
Relativ unvoreingenommen, aber doch mit Bildern der verschiedenen Medien im Kopf, habe ich ein mir unbekanntes Terrain betreten, ein „Spielfeld”, dessen Regeln ich noch nicht kannte. Die ersten Eindrücke waren ambivalent: eine Mischung aus Befremdung, Unsicherheit, Angst aber auch Neugier und dem Reiz des Ungewissen verbunden mit der Frage, ist das in Ordnung, also moralisch und forschungsethisch korrekt, was ich hier tue. Darüber nachzudenken blieb nicht viel Zeit. Als weibliche Beobachterin wurde ich zumindest von den Freiern, teilweise auch von den Dealern, sehr schnell in deren Sinnkonstruktionen einbezogen, weshalb sich meine Wahrnehmung anfangs besonders auf diese Beteiligten richtete. Ich war vorwiegend mit mir beschäftigt und damit, die Annäherung der Männer abzuwehren und mich dennoch aufmerksam im Feld zu bewegen.
Ich beobachtete das Geschehen auf den öffentlichen Plätzen aus der Außenperspektive. Doch die sofortige Einbeziehung (und dadurch sehr gute Verdeutlichung meines Einflusses auf das Feld) machte es bald unmöglich, einfach nur „Zaungast“ zu sein. Die Rollen im Feld sind, sobald man sich längere Zeit dort aufhält, relativ klar verteilt bzw. werden von den Teilnehmenden entsprechend zugeschrieben. So ist es für männliche Forscher recht unauffällig, das Geschehen zu beobachten, da eine wesentliche Aktivität im Feld, vor allem seitens der Freier, das Beobachten selbst ist. 10Spezifisch für dieses Milieu ist es also, dass man als Beobachterin von einem Großteil der Beteiligten ebenfalls sehr genau beobachtet wird.
Zentrales Thema war somit der Umgang mit den teils offensichtlichen, teils vermuteten Attributionen seitens der männlichen Akteure im Feld. Kann und will ich mich dem „Beglotztwerden” und den Anmachen der Freier aussetzen? Wie zeige ich, dass ich nicht „dazugehöre”? Wie reagiere ich, wenn mich ein Freier anspricht, um einerseits etwas zu erfahren, aber gleichzeitig auch ganz klare Grenzen zu ziehen? Es zeigt sich also eine gewisse Ambivalenz zwischen der notwendigen Nähe, um Informationen und Einblicke erhalten zu können, und den beständigen Versuchen aufgrund von Ängsten, beispielsweise vor Überschreitungen der persönlichen Distanz, körperlichen Übergriffen und bezogen auf eigene Tabuthemen sowie daraus resultierendem Unbehagen, Unsicherheit und (teilweise unbewusster) Abwehrhaltung, Distanz zu halten.
Deshalb beobachtete ich nicht nur offen 11, sondern auch verdeckt aus einem weitgehend geschlossenen Kastenwagen mit getönten Scheiben, um Eindrücke tatsächlich einmal distanziert gewinnen zu können, aber auch um nicht selbst immer nur damit beschäftigt zu sein, irgendwie reagieren zu müssen. Dies hatte allerdings den Nachteil, dass die Akteurinnen und Akteure, sobald sie außer Sichtweite waren, tatsächlich von der Bildfläche verschwanden. Insofern passte ich letztendlich die Beobachtungsformen wieder den Bewegungen des Feldes an, um mehr über die dortigen Praktiken zu erfahren. Um meinen Einfluss auf die Handlungen der Akteurinnen und Akteure genauer reflektieren zu können, ließ ich mich bei der Beobachtung wiederum von anderen beobachten.
Während meines Aufenthalts im Bahnhofsviertel kam ich mit einigen Freiern ins Gespräch, die mich für eine Prostituierte hielten und ansprachen. Es war ausgesprochen schwierig, bei diesen Gelegenheiten mein eigentliches Anliegen und meine Rolle an diesem Ort zu erklären. So wurden aus diesen Sequenzen eher Garfinkelsche Experimente (vgl. Harold Garfinkel 1973). Über Störungen der „gängigen” Kommunikation fand ich zumindest einige Anhaltspunkte heraus, wie Freier mit einer solchen Störung umgehen, von welchen Selbstverständlichkeiten sie ausgehen und wie sie die Prostituierten ansprechen. Besonders deutlich wurde dabei der von den Freiern angenommene Konsens, Frauen, die sich an diesem Ort längere Zeit aufhalten, bieten auch ihre sexuellen Dienste an. Mussten sie feststellen, dass sie sich irrten, reagierten sie teilweise ungehalten. Eine Klärung der Angelegenheit war allerdings kaum möglich, da in den Gesprächen i.d.R. nur mit „Andeutungs-Vokabular” (s. Kap. ) kommuniziert wurde.
Trotz der geschilderten Berührungsängste fand ich es erstaunlich einfach, den Freiern ins Gesicht zu sehen. Dazu verhalf mir auch das Wissen über meine Rolle und mein Anliegen sowie das Nicht-Wissen der Freier. Nach ersten Erfahrungen und mit zunehmender Vertrautheit bewegte ich mich selbstsicherer im Bahnhofsviertel. Dazu trugen auch ein Rundgang mit einer Streetworkerin und die Besuche der Druckräume bei. Über deren Mitarbeiterinnen konnte ich Kontakte zu Frauen knüpfen. Das erleichterte auch die Beobachtung der Drogenprostituierten, bei denen ich anfangs viel Skrupel hatte, ihren Tagesablauf, der immer etwas Verbotenes und Geheimes beinhaltet, „auszuspionieren”. Außerdem konnte ich den Frauen damit vermitteln, dass ich keine „Neue” – also keine Konkurrentin – war. Meine Befürchtung, als solche gesehen zu werden, bestätigte sich allerdings nicht.
Читать дальше