Indem man die Abläufe und Praktiken auf dem Drogenstrich sowie die Selbstverständnisse der Akteure offen legt, erfährt man auch etwas über die Kompetenzen der Prostituierten. Diese sind für eine gelungene Interaktion und ein ebensolches Geschäft notwendig. Welche Kompetenzen brauchen und entwickeln die Frauen im Umgang mit den Freiern oder der Polizei? Welche Strategien haben sie, mit der Situation, in der sie anschaffen, umzugehen? Wie kommen sie zu ihren Fähigkeiten und dem nötigen Wissen? Dies herauszuarbeiten ist ein weiteres Ziel der Studie. Dazu nutze ich die Gespräche mit den Frauen, in denen sie ihre Prinzipien bei der Arbeit darstellen. Diese Prinzipien sind Grundlage der Interaktionen mit den Freiern, auch wenn sie nicht immer eingehalten werden (können).
Die dargestellten Forschungsfragen markieren verschiedene Ebenen, die allerdings miteinander in Beziehung stehen. Über die beobachtbaren Interaktionsprozesse lassen sich Abläufe und Strukturen des Alltagshandelns rekonstruieren, die gleichzeitig etwas über die Selbstverständnisse und Kompetenzen der Beteiligten verraten und letztlich immer wieder auf den Kontext und die Bedingungen, innerhalb derer sie stattfinden, verweisen.
Zum Aufbau des Buches:
Forschung in einem tabuisierten und kriminalisierten Milieu erfordert eigene Zugangsformen, erst recht dann, wenn dieses Feld von einer Frau erforscht wird. Die Beschreibung meiner Vorgehensweise soll den Forschungsprozess transparent machen und die spezifischen Probleme aufzeigen, entwickeln sich doch daraus die folgenden Ergebnisse. Das Kapitel Annäherung an das Geheime soll aber nicht nur mein Herantasten an den Forschungsgegenstand verdeutlichen, sondern gleichzeitig der Leserin und dem Leser eine Annäherung an den Prostitutions-Kontext „Drogenszene“ und den diese „beherbergenden“ sozialen Raum ermöglichen. Zum Einstieg beginne ich deshalb mit einer virtuellen Führung durch den für diese Untersuchung wichtigen Teil des Frankfurter Bahnhofsviertels.
Im Kapitel Die Akteurinnen und Akteure auf der Drogenszene stelle ich den räumlichen, personellen und institutionellen Kontext, in dem sich das Geschehen abspielt, genauer vor. Der Ereignisraum „Offene Drogenszene“ beeinflusst mit den darin agierenden Personen und Institutionen sowie seiner Dynamik die Handlungen und Interaktionsprozesse auf dem Drogenstrich. Ich beschreibe die Beteiligten und das Verhältnis der Drogenprostituierten untereinander bzw. lasse die interviewten Frauen selbst zu Wort kommen. Zu den Akteuren gehören auch die Kunden der Prostituierten, von ihnen wird ebenfalls die Rede sein. Zur Einstimmung auf den Hauptteil der Studie gebe ich einen ersten Einblick in das Geschehen auf dem Drogenstrich.
Unter der Fragestellung Was geht hier eigentlich vor? widme ich mich im Hauptteil den Interaktionsprozessen zwischen Prostituierten und Freiern sowie deren Einflussfaktoren. Um die Offenheit des Themas nicht völliger Beliebigkeit stattzugeben, bette ich die empirischen Ergebnisse in soziologische Interaktionstheorien – in erster Linie der Modelle von Erving Goffman – ein bzw. verknüpfe sie zur Verdeutlichung und Abstrahierung mit interaktionstheoretischen Elementen. Den Ablauf des Geschehens habe ich in sechs Phasen unterteilt, die ich im Einzelnen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und Fragestellungen bearbeite. Die Theorien über zwischenmenschliche Interaktionen erhalten dabei unterschiedliche Gewichtung. Zwei weitere Kapitel über Besonderheiten bzw. besonders hervorzuhebende Punkte innerhalb der Drogenprostitution lassen sich nicht ohne weiteres in das Phasenmodell integrieren: Viele Frauen auf dem Drogenstrich haben Erfahrungen mit gewalttätigen Freiern. Wesentlich ist daher das Sicherheitsmanagement der Prostituierten, um solche Risiken so gering wie möglich zu halten. Dazu gehört u.a. sich einen verlässlichen Kundenstamm zu schaffen. Um die Beziehungen zu Stammfreiern geht es am Ende des Hauptteils.
Im Kapitel Mosaikstücke fasse ich die Ergebnisse noch einmal zusammen und weise auf Veränderungen sowie immer wiederkehrende, spezifische Themen innerhalb der geschilderten Inhalte hin. Ich komme auf nach wie vor offene Fragen oder solche, die sich im Laufe der Untersuchung ergeben haben, zurück und gebe einen Ausblick auf Forschungsprojekte, die an diese Studie anknüpfen könnten.
3Verstanden im Sinne eines gesellschaftlich fest installierten sozialen Systems mit spezifischen Ordnungsstrukturen zur Regelung von Aktivitäten.
4Die Schätzungen, wie viele Frauen sich auf diese Weise ihren „Stoff“ finanzieren, fallen allerdings sehr unterschiedlich aus. Die Angaben bewegen sich zwischen 30 und 80 Prozent der Frauen, die sich auch auf der offenen Drogenszene aufhalten. Beispielsweise schreibt Hedrich (1989) in einem Zwischenbericht der Längsschnittstudie „Amsel“, bei der von 1985 – 1990 324 männliche und weibliche Drogenabhängige befragt wurden, von 46% der weiblichen Teilnehmerinnen, die vorwiegend diese Form der Finanzierung wählten. Dieter Kleiber/Doris Velten (1994) beziehen sich auf eine Schätzung von Intersofia (1991), bei der von etwa 5000 – 8000 weiblichen Drogenprostituierten in der BRD ausgegangen wird. Das sind 40% der Frauen, die als drogenabhängig gelten. Beschaffungsprostitution soll 8% der Prostitution allgemein ausmachen. In der schon erwähnten Studie des Sozialpädagogischen Instituts Berlin von Gersch et al. (1988) wird von bis zu 80% der drogenkonsumierenden Frauen, die zumindest zeitweise auf dem Drogenstrich anschaffen gehen, ausgegangen.
5Ich kann mir vorstellen, dass die Zahl der Frauen, die ihren Drogenkonsum sozusagen „ungesehen“ in anderen Bereichen der Prostitution finanzieren, weit höher ist als bisher angenommen. Sie sind schlichtweg nicht so offensichtlich wie die auf dem Drogenstrich in aller Öffentlichkeit (genauso wie Konsumentinnen illegaler Drogen, die sich nicht auf der Szene bewegen). Teilweise zeigt sich das im Kapitel über die Beziehungen zu Stammfreiern (), wenn die Frauen erwähnt werden, die andere Praktiken finden, mit den Kunden Kontakt aufzunehmen, als sich an die Straße zu stellen. Für möglich halten auch Gersch et al., dass „in entsprechenden Etablissements … mehr drogenabhängige Frauen anzutreffen (sind A.L.) als bisher vermutet“ (1988, 15).
6Für Zuhälter scheint der Drogenstrich relativ uninteressant zu sein, da die Beschaffungsprostituierten einen zu hohen Finanzierungsbedarf haben und ihnen Unzuverlässigkeit unterstellt wird (vgl. Leopold/Steffan 1996, 121). Eine zuhälterähnliche Rolle sollen aber häufig drogenkonsumierende Partner spielen (vgl. Hedrich 1989, 98).
7Prostituierte gelten steuerrechtlich als selbständige Erwerbstätige.
Annäherung an das Geheime
Der Drogenstrich ist eine kleine, wenig erforschte Szenerie, der etwas Randständiges, Abweichendes und Kriminelles anhaftet, die es aber in allen größeren Städten gibt. Ein Feld, das durch eine gewisse Verruchtheit etwas Geheimes an sich hat und „offiziell“ nicht ohne weiteres zugänglich ist. Und vor allem ein in mehrfacher Hinsicht tabuisiertes Feld: bezüglich Drogenabhängigkeit, öffentlich inszenierter Sexualität und Prostitution - drei verschiedene „klandestine Welten“, die sich hier vermischen. Viele Menschen kommen in ihrem Leben mit keiner einzigen solchen Subkultur in Kontakt, geschweige denn mit allen drei Dimensionen auf einmal. Das Besondere liegt dabei nicht in einer „Exotik an sich“, sondern wird bestimmt durch Stigmatisierung, Marginalisierung und Illegalität. Daraus ergeben sich dem Untersuchungsfeld eigene Zugangsschwierigkeiten und Hindernisse, die teilweise erst im Laufe der Zeit bei der schrittweisen „Annäherung an das Geheime” (Stephan Palmié 1988) sichtbar wurden. Im Folgenden lade ich dazu ein, mit mir die ersten vorsichtigen Schritte in das Frankfurter Drogen- und Prostitutionsmilieu zu starten, um erste Eindrücke von der Szenerie zu sammeln. 8
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