Nicht der Papst hat sich angekündigt. Keine ranghohen Würdenträger der internationalen Finanzwelt wollen die Stadt beehren. Fahrrad-fahrer sind es, die auf einer Teilstrecke Rich-tung Ziel ein paar Asphalt-Kilometer der Stadt unter die Räder nehmen. Viel Zeit werden sie nicht haben, um sich zu wundern, dass sie hier sind. Sie haben es eilig. Für sie ist Tempo der Maßstab – typisch für unsere Zeit, in der es um den Austausch von Leistungen geht und alles den Gesetzen des Wettbewerbs unterworfen wird, wie Papst Franziskus beklagte. Sie werden sich keinen baumfreien Blick auf die „Gute Stube“ der Stadt gönnen. Ein nach-trägliches Argument für die umstrittene Baumfäll-Aktion geht verloren.
Es werden nicht Radfahrer erwartet, die zu normalen Tageszeiten die städtischen Radwege nutzen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen oder um Freizeit-Müßigfahrten zu huldigen. Die Radfahrer sind Renn-Fahrer. Sie rennen nicht um ihr Leben, sondern kämpfen mit und ohne himmlisch-irdische Zuwendungen darum, nach dreitausend abgestrampelten Kilometern die Pariser Champs-Élyséeszu erreichen.
Die Stadt nimmt Anteil am Tour-Spektakel. Die Image-Kampagne läuft. Es soll ein Spektakel werden, das Aufsehen erregt. Das Rahmen-programm darf unspektakulär sein, muss aber zum Spektakel passen und Stress-Tests aus-halten können.
An jenem Sonntag wird die Stadt ihren großen Auftritt haben. Sie hat den Traum, von viel mehr Menschen gemocht zu werden, als bisher geschehen. Davon wird sie sich hinreißen lassen. Sie wird sich groß fühlen, geachtet und beachtet, mag sie auch von Neidern wegen ihrer tatsächlichen Größe für klein gehalten werden und sich nicht angemessen gewürdigt fühlen.
Der magische Geruch kommender Bedeut-samkeit verleiht Flügel. Einen Sonntag lang sind die Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Ohne Quarantäne-gleiche Hemm-nisse nimmt sie Überschreitungen städtischer Regeln in Kauf. Ihre Geschmeidigkeit kann grenzenlos sein. Das lustvolle Tour-Capriccio wird sie sich nicht entgehen lassen, selbst Kapriolen schlagen, wenn es ihrem Ansehen dient. Vieles kann in empörungsbereiter Gegenwart missverstanden werden – dieses Ereignis nicht. In dem Fall besteht keine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Die Stadt jagt kein Phantom, präsentiert kein Utopia, keine Illusionen, sondern die Tour – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Im Wettstreit um Aufmerksamkeit hat sie längst zugelegt.
Pianisten der Welt zu Gast in der Stadt – nicht, weil die Stadt einen besonderen Ruf bei ihnen hat. Sie bietet ihnen eine Bühne, garantiert ihnen interessierte und dankbare Zuhörer. Der junge Pianist ist zum ersten Mal hier zu Gast. Es gibt größere, bekanntere Städte, in denen er sein jugendliches Können unter Beweis stellte. Wien und Rio de Janeiro, Tel Aviv und Peking. Überall Bewunderung. Er ist in der Pianisten-Welt zu Hause. „Freuen Sie sich auf einen ungewöhnlichen Pianisten“, kündigt ihn der Schirmherr der Veranstaltung an.
Der junge Pianist – Künstler ohne theatralische Gesten. Nicht sich selbst sieht er im Vorder-grund, sondern Haydn, Chopin. Reger, Liszt, aus deren Werken er vorspielt. Das spricht für ihn. Manche Zuhörer wirken überfordert. Die eine oder andere Anleitung zu den Werken hätte ihr Verstehen unterstützt. Haydns Fantasie in C-Dur, Chopins Sonate Nr. 3, Max Regers „Träume am Kamin“ könnten sie besser ver-stehen, wenn Emotionen des Pianisten spürbar wären. So bleibt es beim leichthändigen, wunderbaren Vortrag.
Höflich reagiert der Künstler auf Zwischen-Applaus nicht immer fachkundiger Zuhörer. Denen ist entgangen, dass die vier Sätze von Chopins Sonate ein Ganzes bilden. Der Pianist erhebt sich, bedankt sich respektvoll, spielt weiter.
Die Ungarische Rhapsodie versöhnt. Das Feuer, das sich in Max Regers Träumen noch versteckt hatte, lodert hell auf. Auch der Pianist lebt auf. Franz Liszts „ungarische Zigeuner-klänge“ erwachen mit ihm zum Leben und verkünden mitreißende Lebensfreude.
Ein großer, junger Künstler in der „Guten Stube“ der Stadt. Der Ruf, der ihm vorauseilt, verleiht auch der Stadt Glanz, die Talente fördert. Sie widerlegt die Behauptung, sie sei nicht gut genug für solche Ereignisse. Dankbar darf man teilnehmen. Der junge Pianist kommt gerade recht. Die Sorge, der Stadt könnten die Ideen ausgehen, ist unbegründet.
„Bürgerpreis an engagierte Bürgerinnen, Bür-ger und Initiativen, die sich ehrenamtlich in besonderem Maße für geflüchtete Menschen einsetzen“. Zum fünften Mal wird der Preis von der Partei verliehen.
Man kennt sich, man plaudert, man schüttelt Hände. Zwanglose Atmosphäre. Familientreff. Begrüßung durch die Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende in der Stadt. Begrüßenswerte Mitglieder sind anwesend. Besonderer Gast „die liebe Christina“, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Bundes-landes. Sie weiß nach Besuchen in Pakistan, Afghanistan, im Libanon um die dortige Not der Menschen. Sie glaubt, dass die Menschen trotz vieler Rückschläge auf eine demokrati-sche, lebenswerte Gesellschaft setzen und ihrer Hoffnungslosigkeit entkommen wollen.
Oft gaben sie sich Illusionen hin und wurden enttäuscht. Scheinbarer Ausweg: Flucht, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dabei riskierten und verloren viele ihr Leben.
Eine gesamtstaatliche, gesamtgesellschaftliche Herausforderung, sagt die Ministerin. Guter Wille sei gefragt. Den erkennt sie bei den „Helden unserer Zeit“ – den Bürgern und den Initiativen, die informelle Bündnisse schmieden und Integration leisten. Nicht Ausländer kämen zu uns, sondern Menschen. Vor allem Kinder. Eine eindeutige Haltung gegen Fremdenfeind-lichkeit, welche unsere Gesellschaft spalte, sei gefordert. Flüchtlings-Geschichten müssten Erfolgsgeschichten werden. Verantwortungs-bewusstsein und Durchhaltevermögen seien gefragt.
Ein Ensemble der Musikschule sorgt mit beschwingter "Alter Musik" dafür, dass Töne die Oberhand behalten, die positiv stimmen. Dafür sorgt auch die Auszeichnung der enga-gierten Bürger.
Der Leiter einer Begegnungsstätte blickt auf dreißig-jährige Tätigkeit im sozialen Brenn-punkt zurück. Sympathisch, dass er die Ehrenamtler einbezieht, die nicht immer im Fokus stehen. Sie betreiben kein Krisen-Management und müssen nicht mit kühnen Ideen auffallen. Sie kümmern sich mit ihm in einem Ladenlokal und im Flüchtlings-Ca fé um alltägliche Belange: Hausaufgabenbetreuung, Planung von Festen. Sprachkurse. Dass er für sie zur Vertrauensperson wurde, gründet in seinem positiven Menschenbild.
Die Mitglieder einer Facebook-Gruppe und ihr Initiator werden ausgezeichnet . Ihr Engagement schien zunächst „Tropfen auf den heißen Stein“ zu sein. Doch es wurde ein Erfolg, für Flücht-linge Partei zu ergreifen, obwohl zunächst kaum Anlass zum Optimismus bestand. Jetzt engagieren sich viertausend Bürger, zehn bis fünfzehn waren es zu Beginn .
Diejenigen, die Hilfe benötigen, verhalten sich nicht immer so, wie man es von erwartet. Oft müssen Helfer von vorne beginnen, da sie sich nicht mit Utopien, sondern mit der Realität auseinandersetzen müssen. Daher agieren sie zuweilen zwischen Ablehnung und Zustim-mung, wenn einzige Gewissheit die Ungewiss-heit ist. Weitermachen ist angesagt, auch wenn es keinen Sinn zu haben scheint. Experimente und Übergangslösungen können weiterhelfen. Nicht immer finden Helfer den richtigen Zugang und treffen Fehlentscheidungen, wenn Hilfe nicht so gewollt wird, wie sie man sie anbietet. Das Engagement gleicht dann einer nachdenklich machenden Lektion in Sachen „Demut üben“.
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