Knochenfunde lassen darauf schließen, dass Neandertaler klein und stämmig waren. Robus-ter Knochenbau zeichnete sie aus. Robustheit garantiert auch ihren Nachkommen ein ausge-prägtes Durchsetzungsvermögen. Das Gehirn des Neandertalers soll größer gewesen sein als das unsrige heute. Wer sich mit der Jubilarin auf einen Disput über Gott und die Welt einlässt, wird das bestätigt finden.
In der Neandertal-Welt dominierten die großen Säugetiere. Unsere Neandertalerin bevorzugt die kleinen Tiere und kümmert sich um sie. Große Tiere schätzen ihre Energie und ihren ausgeprägten Willen, Begonnenes zu Ende zu bringen. Neandertaler sind eine besondere Spezies Mensch, an Liebenswürdigkeit nicht zu übertreffen. Jedes Jammertal wird durch sie zum Sehnsucht-Ort.
Es ehrt mich, einer Neandertalerin im fest-lichen Rahmen begegnen zu dürfen. Wer das Leben genießt, sagt sie, teilt Genuss gern mit anderen. Das zeichnet sie aus. „Es ist traurig, sich allein zu freuen“, wusste schon Gotthold Ephraim Lessing. Genuss ist ein Zwilling. Unsere Neandertalerin hat viele Zwillinge. Das macht sie umso liebens-würdiger.
Da sie vertraut ist mit dem Buch der Bücher, der Bibel, weiß sie ihre Neigungen biblisch zu begründen. „Auf vollem Bauch steht ein fröh-liches Haupt“, steht im alttestamentlichen Buch der Sprüche. Feste zu feiern ist christlicher Brauch. Christentum und Kirche sind mehr als zweitausend Jahre alt. Vielleicht stimmt es, dass die vielen Feiertage das Christentum retteten.
Die Bibel erzählt von Frauen, die dem Frauen-Typ einer Neandertalerin nahe kommen. Über Debora wird berichtet, die das Amt einer Rich-terin ausübte. Es ist nicht bekannt, wie bei den Neandertalern Recht gesprochen wurde, jedoch ist nicht auszuschließen, dass Frauen auch bei ihnen richterliche Ämter bekleideten.
Von einer anderen Charaktereigenschaft und Verhaltensweise der Jubilarin kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wie weit sie in die Neandertal-Geschichte zurückgreift. Denkbar ist es dennoch, wenn sich schon berühmte Vorfahren unserer Neandertalerin dieser Tätigkeit gewidmet und sie dem weiblichen Tugendkatalog zugeordnet haben: das Hunde-Verstehen. Reinhard Mey widmete ihm ein Lied, das einer Neandertalerin aus der Seele spricht: „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär' mein Hund.“ Von Neandertal-Hunden haben die Forscher bisher nicht berichtet. Das werden sie nachholen.
Die Neandertalerin muss ihre Beziehung zu Hunden nicht begründen. Es gibt renommierte Hundefreunde. Als Johannes Rau, ehemaliger Bundespräsident, eine Knieverletzung beklagte, die sein Hund ihm zugefügt hatte, soll er geäu-ßert haben: „Als Hund ist er eine Katastrophe, als Mensch unersetzbar.“
Dem wird die Neandertalerin beipflichten. Ihre Mimik verrät, dass Hunde über alle guten Eigenschaften von Menschen verfügen, ohne deren Fehler zu machen. Der möglichen Unter-stellung, Hunde kämen nicht in den Himmel, begegnet sie mit der Feststellung, dass Hunde schon vor uns dort Einlass fanden. Neandertal-Behausungen werden erst zum Heim, wenn sie Hundebeine beherbergen.
Das Neandertal ist menschheitsgeschichtlich eine Fundgrube. Viele kennen es nicht oder haben bisher nur aufgrund von Knochenfunden von dem Tal gehört. Das Leben dort besteht nicht aus gepflegter Langeweile. Dafür bürgt die aufgeschlossene, heutige Neandertalerin mit ihrer Offenheit und Erfahrungsbereitschaft, aber auch mit ihrem gesunden Misstrauen gegenüber selbst ernannten Weltenrettern, die sich mit göttlicher Autorität ausstatten. Sie schaut zurück und blickt nach vorn, verharrt jedoch nie in selbstzufriedener Isolation. Die Welt ist für sie keine Einbahnstraße.
Das Neandertal ist Kultur-Geschichte. Man lebte und lebt auf der Höhe der Zeit. Leibhafti-ger Beweis ist die Neandertalerin.
Sie hat viel erreicht. Sie lebt nicht allein. Sie lebt mit Andy, mit Emily, mit Lucy. Mit Mama und Werner. Mit vielen anderen. Formelle und informelle Bündnisse, gemeinsame Probleme schaffen Bindungen.
Nicht alle trauten es ihr zu. Sie sagte, dass sie es schaffen werde, weil sie um ihre Fähigkeiten wusste. Ein bisschen ist sie stolz auf sich. Und glücklich. Es gab Abschwung-Phasen. Es gab Ziele, die sie verfehlte. Es offenbarten sich Widersprüche, in denen ihr Optimismus abgenutzt erschien. Sie weiß es. Auch andere erleben das, gestehen sich das aber nicht ein. Oft sind es Phasen vor einem Aufschwung. Nicht bei allen ist Aufschwung. Bei ihr ist Aufschwung. Lethargie oder Versprechungen waren gestern. Sie versteht es, über dem zu schweben, was das Leben anstrengend macht. Sie weiß Bedrohungs-Szenarien auszuweichen, Beschwichtigungs-Signale auszusenden und ein Feuerchen auszutreten, ehe es zum Brand wird.
Sie hat geheiratet – Andy, den sie liebt. Auch wegen Emily, ihrer Tochter. Emily mag Andy, Andy mag Emily. Alle spüren, dass sie sich mögen. Sie haben gefeiert mit allen, die dabei waren.
Sie wäre nicht Sie, wäre es eine Feier gewesen wie andere, wie bei anderen. Sie schätzt Sonderwege. Dutzend-Verhalten, Dutzend-Ware sind nicht ihre Art. Sie denkt in anderen Kategorien. Der Ort des Feierns, die zeitlichen Umstände, der Wolkenbruch – anders. Nicht Weihrauch-Atmosphäre. Dennoch feierlich. Sehnsuchts-Orte schlechthin gibt es nicht.
Ihre Gäste waren nicht überrascht, dass sie zu ihrer Feier, zur Feier mit Andy und Emily, erschien, als sie es für notwendig hielt. Sie weiß um die Kunst des Planens und um die Kunst des Verwerfens. Ihre Genauigkeits-Ansprüche sind andere. Planungen sind das, was sie daraus macht. Sie bestimmt die Spiel-regeln. Ihre Gäste wussten das. Auch sie wusste, dass ihre Gäste das akzeptierten. Ihr Zeit-Horizont ist nichts für Kurzsichtige.
Eine schöne Feier war es – mit Wolkenbruch, Sonnenschein und Segensworten:
gesegnet sei die Reise durch die Jahre eures Lebens
es gibt viele, die euch begleiten
möget ihr Kraft haben, füreinander da zu sein
wenn die Sonne für Euch lacht, wenn Wolken sich zusammenziehen
Sie bestand ihr Examen. Sie bewies es ihren Kritikern – allen, die dachten, Geduld und Ausdauer seien nicht ihre Stärke. Sie schaffe nur Bastelarbeiten, nichts Endgültiges, dachten sie und beriefen sich auf Argumente. Jetzt verbergen sie nicht ihre Anerkennung.
Sie ist wieder Mutter geworden. Lucy ist da. Kein Aufschrei wie damals, als Emily kam und alles zwecklos erschien: Schule, Zukunft, ihr Leben. Alles schien sie in Misskredit zu bringen.
Emily veränderte ihr Leben. Wenn es um Emily geht, gerät sie ins Schwärmen. „Mit ihr kann man reden. Sie versteht alles.“ Inzwischen bastelt Emily an ihrem eigenen Weltbild, ihrem eigenen Profil. Sie weiß, was sie will. Mama arbeitet daran, das zu verstehen und zuzulassen, was Emily will. Auch Lucy war sofort will-kommen. Nicht drei, sondern vier sind sie jetzt. Eine Familie. Keine Sorge, übersehen oder vergessen zu werden.
Ehemalige Gewissheiten wurden brüchig oder verfielen. Sie hat Freunde verloren, Freunde gewonnen. Sowohl-als-auch-Geschichten, erfreuliche und andere. Wenn sich etwas zusammenbraute, wusste sie, an wen sie sich wenden konnte. Andere müssen sich nicht als Retter feiern lassen. Letztlich hat sie sich selbst gerettet, ist Autor ihres Lebens geblieben, mit Andy, der sie liebt.
Ihr Leben ist nicht zwecklos – nicht mehr, sagen einige. Es gab Stationen. Es wird weitere geben. Ihr Leben floss nicht ruhig dahin. Legenden und Geschichten oder Menschen, die ihretwegen die Backen aufblasen, kümmern sie nicht. Sie hat gelernt zu hören und zu über-hören, zu sehen und zu übersehen. Zu den Anfängen kehrt sie nicht zurück. Dieselben Schallplatten wird sie nicht auflegen.
Es muss nicht alles so bleiben, wie es jetzt ist. Geschichten, die das Leben schreibt, sind oft Geschichten mit offenem Ende.
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