Tage später. «Mamma, ich habe gesehen, wie du vorhin zusammen mit dem Freund meines verstorbenen Vaters aus dem Schlafzimmer gekommen bist. Was soll das? Ist er einer wie der Sindaco?»
«Der Sindaco, wieso?»
«Nun ja, vor ein paar Wochen habe ich gesehen, wie er die Serviertochter des Caffè dello Sport in seinem Ferrari umarmt und geküsst hatte. Sag niemanden, dass ich es dir verraten habe, denn ich habe ihm versprochen, nichts auszuplaudern.»
Die Situation der Mutter war in diesem Moment äusserst peinlich. Sollte sie ihrem Ältesten, der die Primarschule bald verlassen würde, die ganze Situation erklären oder weiterhin Märchen statt die Wahrheit erzählen? Sie nahm einen Anlauf und sagte: «Caro mio, du kannst es vielleicht noch nicht verstehen, aber ich werde versuchen, es dir zu erklären. Erwachsene Menschen, und bald gehörst du auch zu ihnen, brauchen Liebe, körperliche Liebe, Umarmungen, Küsse und so. Ich habe auch dich gesehen, als du deiner Schulfreundin die Hand gedrückt hast. Hast du ihr im Versteckten nicht auch einmal ein Küsschen gegeben? Wie immer, ja, ich habe den Freund deines Vaters im Schlafzimmer umarmt, weil ich nicht wollte, dass uns jemand sieht. Da dein Vater nicht mehr hier ist und ich Lust auf die Berührung eines Mannes hatte, habe ich mich ihm hingegeben. Denke jetzt bitte nicht, dass ich eine Schlechte bin. Es ist einfach so. Versuch mich zu verstehen. Bitte!»
Und völlig unerwartet wollte er auch noch wissen, wieso sein kleiner Bruder Andrea eine dunklere Hautfarbe als er und seine Schwester Maria und pechschwarze Haare hatte.
Perplex ob dieser seltsamen und heiklen Frage ihres Ältesten, kam ihre Antwort nur zögernd: «Äh, weisst du, lieber Stefano, äh, das hat mit deinem Urgrossvater väterlicherseits zu tun. Er war von dunkler Hautfarbe und hatte ganz schwarze Haare. Man spricht dann von Genen, die sich, äh, manchmal erst nach Generationen auf spätere Kinder übertragen. Andrea hat diese Gene von seinem Urgrossvater in sich. Verstehst du?»
«Bene» war sein letztes Wort, bevor er sich in sein Zimmer zurückzog und ein weiteres Mal zu grübeln begann. Meine Mutter eine Schlechte? Nein, niemals, sie ist immer lieb zu allen. Der Mann ein Schlimmer? Kaum, er war schliesslich der Freund meines Vaters und grüsste mich immer liebevoll wie ein Onkel. War mein Vater ein Schlechter? Ich wüsste nicht weshalb. Aber man hat ihn erschossen, im Wald draussen. Hat er vielleicht doch etwas Ungutes getan? Lieber Gott, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist, dass alles recht ist und behüte bitte meine Mutter.
*
Am nächsten Tag fand die Übergabe der Abschlusszeugnisse der Primarschule statt. Stefano Gallo nahm das Zeugnis aus den Händen des Schulrektors in Empfang, bedankte sich höflich und stellte sich zurück in die Reihe der Schulabgänger, die noch auf ihre Abschlusszeugnisse warteten. Nebst den Eltern war auch der Sindaco anwesend. Stefano wurde vom Rektor ganz speziell gelobt, weil er den höchsten Notendurchschnitt aller erreicht hatte. Als Belohnung erhielt er ein dickes, reich mit Porträts, Sportstätten und Wohnblocks bebildertes Buch über die Geschichte der Ehrenwerten Gesellschaft. So hiess der Titel des Buchs. Man könne nicht früh genug beginnen, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden, meinte er als Kommentar bei der Übergabe.
Und der Sindaco zwinkerte ihm zu und ergänzte: «Du wirst Antworten finden über das Leben der Erwachsenen im Allgemeinen, wie sie denken und fühlen, oder über das Funktionieren einer Gemeinde wie der unseren und Italiens überhaupt, über das Gestern und das Heute, wie lebte man früher und was hat sich bis heute verändert, du wirst darin erfahren, was Ökonomie und Politik bedeuten, ob es für junge Menschen besser ist, einen handwerklichen Beruf zu wählen oder ein Studium zu beginnen, du wirst leichter verstehen, warum man manchmal keine Erklärung findet darüber, weshalb Leute bei Unfällen sterben, ohne dass die Ursache aufgeklärt werden kann. Es ist darin auch von der Liebe zwischen Mann und Frau die Rede. Es gibt allerdings ein paar schwierige Passagen, die du mehr als einmal lesen musst, bis du sie verstanden hast. Dieses Buch öffnet dir den Weg ins Erwachsensein. Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Lebensweg.»
Stefano war dankbar, obwohl er noch nicht genau wusste, was es mit dieser sagenhaften Gesellschaft auf sich hatte. Dies hatte ihm weder der Rektor noch der Bürgermeister erklärt. Er würde das Buch so schnell wie möglich lesen. Das war schon mal klar, suchte er doch schon immer nach Antworten.
Damit neigte sich sein erster Lebensabschnitt im tiefsten Süden Kalabriens langsam dem Ende zu.
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