Stefano Gallo senior fragte sich manchmal, wie dies alles finanzierbar ist. Mit den Gemeindesteuern allein war dieses heile Leben hier in dieser Abgeschiedenheit sicher nicht möglich. Es musste das Verdienst des beliebten Sindaco sein. Der Bürgermeister war reich, wohnte in einer hoch über dem Städchen thronenden Villa und fuhr als einziger Hiesiger einen Ferrari. Woher er derart viel Geld hatte, wusste niemand. Aber am besten fragte man sich solche Sachen erst gar nicht, solange für alle so fürstlich gesorgt wurde.
In diesem Städtchen befanden sich nur zwei nennenswerte Läden, dafür zwei ganz besondere. Zum einen ein Eisenwarengeschäft, wo man alles kriegen konnte. Die Auswahl war grösser als in jedem andern Ort, sogar umfassender als in Réggio, immerhin die Haupstadt der Region Kalabrien. Wieso das so war, wusste niemand genau. Man fragte auch nicht nach den Gründen. Die Käufer stammten nicht nur von hier sondern von weit herum, sogar von den Küstenorten. Man fand hier halt einfach alles, von einer einzelnen Schraube bis zu Mähdreschern. Der Laden lief hervorragend. Der Besitzer musste inzwischen Millionär geworden sein, sagte sich Stefano senior, der sich auch hier eindeckte, wenn ums Haus herum etwas geflickt werden musste.
Ein anderer erstaunlicher Laden, eine Bäckerei, lief ebenfalls ausgezeichnet. Das Brot und die Panini immer knusprig, die Torten immer wohlschmeckend und frisch. Die Backstubeneinrichtung und der Verkaufsladen wurden erst vor einem Jahr gänzlich erneuert. In einer Ecke befanden sich Stehtische, an denen man einen herrlich duftenden Espresso schlürfen konnte, musste man mal warten, bis man an der Reihe war. Denn auch hier stammten viele Kunden von weit herum. Stefano senior hatte schon mehrmals einen Lieferwagen eines bekannten Strandhotels unten am Meer vor dem Laden stehen gesehen. Wieso diese Bäckerei so erfolgreich war und sich gerade hier in diesem verwunschenen Städtchen befand, wusste niemand. Man fragte auch besser nicht danach. Es ging einem ja äusserst gut.
Das gesellschaftliche Leben beschränkte sich auf das einzige Lokal am Ort, dem Caffè dello Sport, den sonntäglichen Besuch der Kirche, die Festlichkeiten an den zahlreichen katholischen Feiertagen, die raren Besuche der jungen Abgewanderten, die gelegentliche gemeinsame Einkaufs-Busfahrt nach Réggio, den gemütlichen Schwatz über den Gartenzaun hinweg und natürlich aufs Zuhause in der guten Stube vor dem Fernseher. In jedem Haus lief er ununterbrochen von frühmorgens nach dem Aufstehen bis spätabends vor dem Zubettgehen. Auch wenn sich niemand im Zimmer aufhielt, er lief. Das gehörte sich so und basta.
Im Caffè dello Sport verkehrten nur Männer. Auf der ersten Etage befand sich ein kleiner Saal, der manchmal für Hochzeiten oder Vereinsanlässe gemietet wurde. Im zweiten Stock lagen vier sehr einfach eingerichtete Zimmer mit Lavabo für die wenigen Touristen, die es ab und zu hierhin verschlug. Das gemeinsam genutzte Badezimmer mit WC befand sich auf dem Flur. Die einzige Frau im Haus war die blonde Serviertochter Giulia. Obschon sie ihre Reize sehr offenherzig zeigte, liess sie sich nie von einem Mann betatschen. Tat dies einer trotzdem, wusste am nächsten Tag die ganze Gemeinde Bescheid. Dies verhiess für den Flegel selbstverständlich Schmach. Immer lief eine Partita di calcio oder eine Telenovela auf dem grossflächigen TV-Gerät über der Bar. Auch wenn niemand zuhörte.
Wie bereits erwähnt, war Stefano junior ein äusserst aufgeweckter Junge. Er gab nie Ruhe. Er schien nie müde zu sein. In der Schule zeigte sich schnell, dass er lernfreudig war und über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte. Sein IQ wurde zwar nie offiziell gemessen, doch seine Primarlehrerin beurteilte seine Intelligenz um einiges über dem Durchschnitt seiner Klasse. Heutige fortschrittliche Eltern aus Ländern des Westens wie den USA, Deutschland, der Schweiz oder Frankreich würden einen Sohn vom Kaliber eines Stefano wohl ziemlich schnell zu einem Psychiater schicken und ihn auf ADHS überprüfen lassen. Stefano wäre auf alle Fälle ein solcher Fall gewesen. Hätte man ihm Ritalin oder ein ähnliches Medikament zur Reduzierung seiner Hyperaktivität verabreicht, wäre er wohl nie das geworden, was er schlussendlich in seinem Leben erreicht hat. Ob eine solche Behandlung zu jener Zeit für die Allgemeinheit beziehungsweise für Italien in der Zukunft positiv oder negativ ausgefallen wäre, liess bis heute keine übereinstimmende Meinung unter Journalisten wie unter Politikern erkennen.
Seinem unermüdlichen Drang nach Aktivität entsprangen auch etliche lustige und blöde Streiche, die er meist zusammen mit Schulkameraden ausheckte. So jener mit dem Portemonnaie, der weltweit wohl am meisten vorkommt. Wenn die Buben hinter einer Hecke kauerten, die Schnur, die am Geldbeutel draussen auf dem Trottoir befestigt war, mit beiden Händen festhielten und darauf warteten, dass ein Passant ihn entdecken und sich danach bücken würde, kicherten sie vor sich hin. Bückte sich dann einer, zogen sie schnell an der Schnur und der Passant griff ins Leere und staunte. Die Buben rannten dann lachend davon, bevor sie sich trauten, dasselbe Spielchen ein weiteres Mal zu spielen. Und wenn man übertreibt, dann folgt meistens die Strafe. Einer der Passanten, der sich nach dem Portemonnaie gebückt hatte, war niemand anders als der dortige Carabiniere. Es kam so. Von weitem beobachtete er, wie eine Kinderhand ein Portemonnaie auf das Trottoir legte. Er wollte zwar einen andern Weg einschlagen, änderte jedoch seine Meinung und näherte sich dem Geldbeutel, bückte sich allerdings nicht, sondern griff hurtig hinter das Gebüsch und packte Stefano am Schopf. Stefano schrie vor Schmerz. Der Polizist liess ihn los und verabreichte ihm gleich noch eine saftige Ohrfeige, begleitet von belehrenden Worten. Stefano weinte nicht lange, die Blamage war schnell überwunden. Allerdings hoffte er in so einem Fall inniglich, dass der Carabiniere seinen Eltern nichts davon erzählen würde.
Er war fast immer der Anführer. Bei der Ausübung solcher Streiche kam es auch vor, dass alle Buben erwischt und die Eltern informiert wurden, was zu barschen Zurechtweisungen und unangenehmen Strafen wie Zimmerarrest führen konnte. Wenn sich die Kameraden dann am nächsten Tag in der Schule wieder trafen, gabs für Stefano, den Anführer, zur Strafe, dass sie wegen ihm verpfiffen worden waren, auch mal Haue. Dagegen konnte er sich schwerlich wehren, war er doch der Kleinste und Schwächste unter ihnen. Er ertrug es jedes Mal mit Fassung. Seine Mutter fragte ihn in solchen Fällen bei seiner Heimkehr allerdings, wieso er eine blutunterlaufene Strieme auf dem Arm oder ein andermal eine blutverkrustete Schramme auf seiner Wange hatte. Um passende Ausreden war Stefano nie verlegen. Dass er zusammengeschlagen worden war, hätte er auf alle Fälle nie und nimmer zugegeben. Also tischte er Lehrern und Eltern, je nach Situation, Lügen auf. Auch im Verdrehen von Tatsachen war er grossartig.
Selbst wenn er hochintelligent war, und dessen war er sich selber schon in seinem noch jungen Alter sicher, litt er unter seiner relativen Kleinwüchsigkeit. Alle gleichaltrigen Kameraden waren grösser als er. Selbst im Vergleich zu den Mädchen schnitt er in Bezug auf die Körpergrösse schlecht ab. Die einzige Schulfreundin, die er in der Primarschule hatte, war die kleine, mollige Camilla, Tochter eines Bauern unten im schattigen Tal. Alle andern Mädchen, alle attraktiver und grösser als Camilla, suchten sich die gross gewachsenen Knaben aus. Das nagte zwar zeitweise an seinem Selbstwertgefühl, doch er kompensierte diese peinlichen Seelenprobleme, deren er sich selber vage bewusst war, mit seiner geistigen Überlegenheit und seinen geistreichen Anschauungen. Tauchten in der Schule Probleme zwischen rivalisierenden Banden oder zwischen Lehrer- und Schülerschaft auf, war er schnell zur Stelle und schlichtete den Streit. Wieso er dies so einfach schaffte, ist schwer zu sagen. Auf alle Fälle besass er eine überhöhte Fähigkeit zu kommunizieren. Er fand immer die richtigen Worte, um alle von seinen Argumenten zu überzeugen, und war deshalb auch fast überall beliebt. Selbst der Schulleiter wunderte sich und wäre froh gewesen, hätte er ähnliche Fähigkeiten gehabt, um die immer wieder auftretenden Randale beilegen zu können.
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