Frau Schaf und er hatten über die Jahre eine typische Semi-Nah-Freundschaft entwickelt. Das bedeutete: Sie redeten extrem viel miteinander auf dem Hinweg, verhielten sich solidarisch während der Veranstaltung und schwiegen bei der Heimfahrt, weil sie in der Regel sehr müde waren und einer dem anderen keine intimen Zwischengeschichten oder erlebte eigene Historien erzählen wollten.
Andrea Muster-Caro wandte sich zu Frau Schaf und äußerte: „Ich glaube, Sie haben da etwas falsch verstanden… Sie sollten nicht oben an die Decke schreiben, sondern nur vor dem Schreiben nach oben sehen, um Ihr Gehirn dazu anzuregen, Ideen für den Artikel zu erzeugen. Diese Visionen können Sie danach wie gewohnt notieren.“ Sie rückte mit ihrem Stuhl etwas näher an ihren Ehemann heran, um von ihm einen zustimmenden Blick zu erheischen.
Frau Schaf zupfte ihren Rock zurecht und richtete sich gerade und symmetrisch auf, nahm einen Bleistift quer in den Mund, um sich in gute Stimmung zu bringen (Embodyment oder Verkörperung von Emotionen: Bereits 1988 zeigte Fritz Strack an der Universität Mannheim in seinem inzwischen klassischen Experiment, dass Mimik und Gestik die Stimmung beeinflussen. Er ließ Probanden einen Bleistift quer in den Mund nehmen. Dadurch hoben sich automatisch ihre Mundwinkel wie bei einem Lächeln. Das hatte einen verblüffenden Effekt: Die Probanden fanden eine Reihe von Cartoons mit Stift im Mund deutlich lustiger als ohne. Untersucht man das Blut der Probanden, so kann man einen erhöhten Glückshormonspiegel messen). Denn schließlich wurde eine hohe Erwartung mit dem neuen Leitartikel in sie gesetzt.
Erneut blickte sie an die Decke und während sie den Tintenklecks betrachtete, begann er, sich zu verwandeln. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sich Fehler sehr wohl zu guten neuen Lösungen entwickeln können. „Jetzt hab ich’s“, rief sie hocherfreut, „die Inspiration ist da!“
Wie sich später herausstellte war der Fleck autonom und flexibel. Er wählte seine Aufenthaltsorte gerne selbst an strategisch bedeutungsvollen Punkten. Eine seiner Vorlieben war es, in guten Hotels leichtfüßig aufzutreten, insbesondere, wenn neue Reisegruppen erwartet wurden. Häufig inszenierte er sein Erscheinen in einer Art Täuschungsmanöver beim Beschreiben von Papier oder bei gemeinsamen Mahlzeiten im Rahmen großer Menüs. Seit Jahren fand er Spaß daran, in geschmackvollem Dunkelblau völlig unerwartet in zeitloser Eleganz aufzutreten. Während die Betrachter den Fleck fixierten, verschwammen die Konturen und es ergaben sich neue Formen, die dann die Phantasie anregten. Der Fleck nahm so Einfluss auf seine Betrachter, ohne dass diese es bemerkten. Er gab seinem Publikum das Gefühl für Wahlmöglichkeiten durch seine Performancekünste.
Bei seinen Betrachtern weitete er den Blick, und sie gerieten ins Träumen. So wirkte er als Entschleunigungs-Portal. Auf diese Weise konnte er sich dauerhaft und dezent unter Menschen und dem lieben Vieh aufhalten…
Der Delfinmensch, Gott sei Dank oben Delfin – unten Mensch, denn sonst könnte er viele Dinge auf Land nicht mitmachen… dieser Delfinmensch, der mit dem Rücken zu den anderen Anwesenden saß, ergänzte nach einem kurzen Zucken seines linken Auges „Es ist hervorragend, dass Sie sich wieder in einen guten Zustand gebracht haben, werte Frau Schaf – so wird der kreative innere Prozess angeregt.“
Dr. Engström, der eines seiner langgezogenen spitzen Ohren nach hinten kippte und mit dem anderen Ohr wackelte, wirkte leicht verwirrt. Er drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, um dann Frau Schafs Experiment nachzuvollziehen. Er nahm selbst einen Bleistift und klemmte ihn zwischen seine Zähne. Auf einmal sah er zuversichtlich und fröhlich aus.
Die Gesellschaft musste lachen und auch Frau Schaf vergaß beim Anblick ihres langjährigen Bekannten einen Moment lang ihre Gedanken an den Artikel. Scherzend sprach sie: „Das steht ihnen gut, Lieber Wolfgang!“ Danach wandte sie sich strahlend an die anderen: „Ich nehme an, wir werden eine gute Zeit miteinander verbringen!“
Insgesamt waren alle froh, hier zu sein an diesem Spätsommertag inmitten der herrlichen Natur. Der Fleck irritierte sie zwar etwas, aber nach außen hin nahmen sie sein Erscheinen gelassen in Kauf, als würde er dazugehören. Er war zwar stumm, aber vielleicht würde er sie durch irgendwelche Zeichen auf etwas aufmerksam machen, so als ob er eine Rolle spielen möchte im weiteren Geschehen.
Albert Muster sah auf die Uhr und stellte fest: „Es wird Zeit, hinein zu gehen, unser Club-Maed-Treffen beginnt in 5 Minuten.“
Sofort stand seine Ehefrau auf und folgte ihm auf seinem Weg ins Foyer. Auch die anderen Gäste machten sich auf den Weg, denn sie wollten pünktlich beginnen. Ihnen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass sie bereits auf der Terrasse nicht nur unbemerkt begonnen hatten, sondern bereits mitten im Thema waren.
Im Foyer konnten sie überall verteilt in lauschigen Nischen kleine bunt leuchtende Hühner-Hologramme bewundern, die wohl ein japanischer Künstler hier ausstellte.
Es war Punkt 16.00 Uhr und die illustere Gesellschaft war vollständig zu ihrem ersten Club-Maed-Treffen in der Eingangshalle des Landhotel Kringel erschienen, in der sie sich verabredet hatten. Das relativ einsam gelegene Club-Domizil war vom „Fantast-Adviser“ als außergewöhnlicher Platz zertifiziert worden und wohl genau der richtige Ort, um besondere Erfahrungen machen zu können. Das hatte sich inzwischen herumgesprochen und das Landhotel wurde von diversen Gruppen auch wegen seiner herrlichen Außenanlagen mit der Maulbeerallee, die zu dem Haus hinführte und dem parkähnlichen Garten mit den gewaltigen Buchen, Eichen und kräftigen uralten Mammutbäumen, die von dichtem Rhododendron unterwachsen waren, rege gebucht. Im Park befanden sich auch vegetative Besonderheiten wie ein Taschentuchbaum sowie mehrere afrikanische Affenbrot- und Leberwurstbäume, die vor allem in der Erntezeit rege bestaunt wurden. So tummelte sich dort regelmäßig eine Vielzahl verschiedener Seminargruppen angefangen von Studienleitern zur Seelsorge über Chöre bis hin zu Weisheit suchenden Mittelalter-Verehrern. Auch fanden sich dort Menschen, die sich mit Themen wie Rebirthing, Diät-Religionen, dem geheimen Leben der Bäume beschäftigten sowie Schriftsteller, Maler, Fotografen und Poeten. Außerdem gab es hier die weit über die Landesgrenzen hinaus berühmte Bibliothek, die angeblich das komplette Halb-Wissen der Welt beherbergte. Also, alles in allem, schienen dies ideale Bedingungen zu sein, die ungeahnte und überraschende Erkenntnisse versprachen. Aktueller Anlass war eine Unkonferenz, ein sogenanntes sBarcamp, eine Weiterentwicklung des Barcamps (https://de.wikipedia.org/wiki/Barcamp / 27.02.2017: „Ein Barcamp (häufig auch BarCamp, Unkonferenz, Ad-hoc-Nicht-Konferenz) ist eine offene Tagung mit offenen Workshopd, deren Inhalte und Ablauf von den Teilnehmern zu Beginn der Tagung selbst entwickelt und im weiteren Verlauf gestaltet werden. Barcamps dienen dem inhaltlichen Austausch und der Diskussion, können teilweise aber auch bereits am Ende der Veranstaltung konkrete Ergebnisse vorweisen (z. B. bei gemeinsamen Programmierworkshops)“), das besonders kostengünstig war mit dem Titel: professionstheoretische Standortbestimmung für Biodiversität im Bereich der Grenzwissenschaften, das vom Club-Maed initiiert und organisiert wurde. Das Programm versprach, dass jedes Wesen teilnehmen kann, das manchmal denkt und nicht unbedingt komplett von sich überzeugt ist.
In Vorfreude und großem Vertrauen erwarteten die frisch eingetroffenen Teilnehmer den Beginn der Veranstaltung. Alle Teilnehmer hatten die Chance, irgendetwas zu ihren Themen durch Wort und Tat beizutragen, sei es durch Vortrag, Beteiligung an einer Diskussionsrunde oder andere Aktivitäten. Es waren auch spontane Mitmachtrancen für Newcomer und Oldies erwünscht. Alle Anwesenden hatten die Zeit zum individuellen Vor-sich-Hinsinnen, aber auch Gelegenheit zur kollegialen Beratung von Zufalls-Bekanntschaften. Eigentlich war die Struktur des Club-Maed ähnlich wie bei den seit Jahrhunderten bestehenden Geheimbünden. Es handelte sich um einen exklusiven Club innovativer Denker, nur eben nicht geheim, sondern offen für alle… In den Leitlinien war zu lesen, es sei von öffentlichem Club-Interesse, vernunftbegabte Wesen einzuladen in regen Austausch mit ihnen zu treten und ihre Fantasie-Dysfunktionen zu beseitigen.
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