„Nur, dass ich das richtig verstehe: Der Mann, der mit allem flirtet, was einen Rock trägt, verbietet dir ein Bild über dem Bett, auf dem ein toter Kaiser zu sehen ist? Ernsthaft?“
„Wenn du das jetzt so sagst, klingt es komisch. Für mich war es das aber nicht. Ich fand es irgendwie süß! Er hat immer gesagt, dass er nur mich will und nie etwas mit einer anderen hatte. Ich habe ihm geglaubt. Ich habe ihm alles geglaubt.“
„Und jetzt?“
Marie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob er mir treu war. Ich will es auch nicht wissen. Schlimm genug, dass ich so sehr in seinem Bann stand und jedes seiner Worte für eine Offenbarung hielt.“ Ihre Hände zitterten leicht und sie klammerte sie fester um ihr Glas. „Deshalb traf mich das Ende so hart.“
„Was ist passiert? Auf einmal liebt er dich nicht mehr?“
„Ich weiß nicht, ob er mich je geliebt hat.“ Ein bitterer Zug erschien auf Maries Gesicht. „Er kam eines Tages nach Haus und sagte, es sei vorbei. Einfach so. Ich würde ihn nicht mehr glücklich machen, sondern lästig sein. Das war's. Aus und vorbei.“
Anna blieb der Mund offen stehen. „Das kam einfach so, aus heiterem Himmel?“
Marie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht, aber ich habe es nicht wahrhaben wollen. Einige Wochen vorher hatten wir ein langes Gespräch, in dem er meinte, dass ich keine Frau fürs Leben sei.“
Schnaubend verkniff sich Anna jeden Kommentar.
„Er sagte, ich entspräche nicht den Erwartungen, die er an eine Frau hätte. Schon mein Aussehen sei nicht das, was er wolle.“
„Arschloch! Habe ich schon immer gesagt!“
Marie grinste kurz. „Das Gespräch endete damit, dass er mir sagte, dass er mich trotzdem lieben würde und deshalb mit mir zusammen sei.“
„Aha. Sehr gnädig.“ Anna atmete tief ein. „Mal ehrlich jetzt: Das hat dich nicht stutzig gemacht? Du hast da nicht drüber nachgedacht?“
Das Blut schoss Marie in die Wangen. „Nein. Ich habe es einfach abgetan. Schließlich ist er an dem Abend betrunken gewesen.“
Missbilligend verzog Anna das Gesicht. „Noch so etwas, was ich nicht verstanden habe. Wieso hast du das mitgemacht? Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn je wirklich nüchtern angetroffen habe. Auch als ich deinen Kram geholt habe, war er ziemlich zugedröhnt.“
Marie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich weiß nicht. Er hat häufig getrunken und manchmal habe ich nachgeholfen.“
„Dann habe ich mich da nicht getäuscht. Aber warum? Das passt nicht zu dir.“
„Er war freundlicher, wenn er getrunken hatte. Weniger grüblerisch und mir gegenüber offener. Dann sagte er mir wenigstens, dass er mich liebt.“ Marie verbarg kurz ihr Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufblickte, lächelte sie.
„Lass uns von etwas anderem reden. Da wir gerade bei Napoléon waren ...“
So kannte Anna ihre Cousine. Bei diesem Thema besserte sich ihre Laune immer. „Was ist mit ihm?“
„Ich habe von ihm geträumt.“
„Echt?“
„Ja. Der Traum war merkwürdig realistisch. Also, real sind Träume ja irgendwie immer, aber an diesen kann ich mich haarklein erinnern.“
Anna verzog skeptisch einen Mundwinkel. „Ich erinnere mich auch an meine Träume.“
„Nein, es ist nicht so, wie man sich an Träume erinnert. Es ist mehr wie eine echte Erinnerung. Ich kann das schlecht erklären.“ Marie zögerte, entschied sich dann aber, weiterzusprechen. „Ich kann den Staub auf meiner Haut fühlen, die warme Nachtluft, die Grillen zirpen hören – und ihn. Seine Stimme, sanft, eindringlich und mit diesem Akzent.“
„Du hörst dich an, wie ein schwärmender Teenie!“, kicherte Anna.
„Willst du die Geschichte jetzt hören oder nicht?“ Marie hatte jenes Leuchten in den Augen, das Anna so gut kannte. Das Leuchten, das sich immer zeigte, wenn sie von Napoléon sprach.
„Sicher will ich das. Fang an!“
3. November 2010 (irgendwann 1785)
Anfang
Licht. Ich öffnete die Augen, doch gleißende Helligkeit zwang mich, sie sofort wieder zu schließen. Diesmal öffnete ich nur Schlitze. Schemenhaft erkannte ich eine menschliche Silhouette.
Bemüht mit der Hand die Augen zu schützen, murmelte ich: „Nehmen Sie das Licht weg!“
Es verschwand nicht, aber der Schemen sprach: „Wer seid Ihr? Wie seid Ihr hier hereingekommen? Was wollt Ihr hier?“ Die Fragen kamen schnell hintereinander, gestellt von einer männlichen, herrischen Stimme mit einem eigenartigen Akzent.
„Es tut mir leid ...“ Moment! Stopp! Sprach ich Französisch?
„Was tut Euch leid?“, herrschte der Mann mich an. Er sprach tatsächlich Französisch. Allerdings mit stark südländischem Akzent. Italienisch vielleicht? Sehr merkwürdig.
Das Licht erlaubte es mir immer noch nicht, die Augen mehr als einen Spalt breit zu öffnen.
„Zu hell!“, fauchte ich den Mann an - und tatsächlich veränderte die Lampe ihre Position und ich konnte endlich sehen. Erleichtert ließ ich meine Hand sinken.
„Name und Begehr!“, forderte die Stimme mich auf.
„Marie.“ Mist! Warum nannte ich meinen richtigen Namen? Schließlich wusste ich nicht, wo ich war, oder was das alles zu bedeuten hatte.
„Marie und weiter?“ Der Mann klang langsam etwas genervt.
Ich nannte den erstbesten Namen, der mir einfiel: „Seurant, Marie Seurant.“ Der falsche Name kam mir über die Lippen, als hätte ich nie einen anderen gehabt.
„Was macht Ihr hier?“
„Keine Ahnung!“ Wollte er mich reizen? „Ich weiß nicht einmal, wo ich mich im Moment befinde.“
Schweigen schlug mir entgegen. Warum antwortete er nicht? War das Schweigen gut oder schlecht für mich?
„Wir sind im Hof der Militärschule von Paris. Wie zum Teufel seid Ihr hier hereingekommen? Es stehen überall Wachen!“
Paris? Was zur Hölle machte ich in Paris? Möglichst unauffällig sah ich mich um. Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Also musste ich mich mit dem begnügen, was ich hatte: Ich saß auf dem Boden und vor mir stand dieser Mann mit seiner Laterne, deren Licht einen knappen Meter weit leuchtete. Festgetretene Erde unter meinen Fingern deutete darauf hin, dass ich mich möglicherweise wirklich in einem Hof befand. Sah ich da nicht die Umrisse großer Gebäude um mich herum?
Wenn ich tatsächlich in Paris war, erklärte das zumindest, warum wir Französisch sprachen.
„Welches Jahr?“ Au weia, was war das denn für eine Frage? Jetzt musste er mich für völlig planlos halten. Welches Jahr sollte schon sein?
Seine Kleidung sah allerdings nicht modern aus. Nach allem, was ich in der Dunkelheit erkannte, trug er eine rote Kniebundhose und einen dunkelblauen Uniformrock mit roten Aufschlägen und silbernen Tressen. Dazu einen schwarzen Dreispitz. Die Uniform erinnerte mich an Bilder von Soldaten aus der Zeit Friedrichs des Großen.
Mein Blick wanderte an mir hinunter. Was war denn das? Das am Oberkörper eng sitzende Kleid, das sich in einem weiten Rock aufbauschte, überraschte mich. Darunter schien eine Schnürbrust meinen Körper zu formen. Vorsichtig bewegte ich mich in verschiedene Richtungen. Bequemer als ich gedacht hätte. Zusammen mit seiner Uniform datierte ich die Kleidung auf spätes 18. Jahrhundert.
„1785“, beantwortete er meine Frage.
Ha, ich lag richtig! Aber war das ein Grund, sich zu freuen?
„Was soll das? Ich müsste Euch melden.“ Er hob die Laterne ein klein wenig, so dass ich seine Gesichtszüge erahnen konnte.
In dem Moment klingelte es bei mir: 1785? Paris? Militärschule? Das Jahr, in dem Napoléon Bonaparte seinen Abschluss an dieser Akademie gemacht hatte. War ich deshalb hier? Wäre es nicht toll, ihn zu sehen?
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