Neben dem Tisch stand die Kellnerin mit dem Grappa und hüstelte. Sie setzten sich wieder und taten unschuldig. Die Kellnerin stellte den Schnaps vor Benjamin ab. »Dankeschön.« Die Kellnerin ging mit steifen Schritten und mit einem verächtlichen Zucken um den Mundwinkel zurück.
Charlotte aß auf, und Benjamin kippte seinen Grappa. »Ah, das tut gut.« Er schüttelte sich leicht. »Sollen wir?« Charlotte nickte und erhob sich. »Einen Moment. Ich zahle eben noch den Grappa.« Er machte das an der Theke, während Charlotte sich ihre Jacke von der Garderobe nahm und anzog, die gleiche enge Teppichjacke wie im Esprit. Als er zurückkam, half sie ihm in seine Jacke, obwohl er einen halben Kopf größer war.
Draußen hakte sie sich bei ihm ein und schmiegte sich an seine Seite. Es fühlte sich gut an.
»Komm, wir gehen noch in den kleinen Ratskeller. Ich habe noch Durst auf ein Bier, und ich möchte noch mit dir reden«, hauchte sie ihm an die Brust, ohne ihn anzusehen, und zog ihn über die Straße. Benjamin hatte Mühe, sich ihren kleinen Schritten anzupassen. Seine langen Beine waren das weite Ausschreiten gewohnt. Dann ging es auf einmal; Charlotte hatte automatisch ihre Schrittlänge etwas vergrößert, und die hundert Meter bis zu der Kneipe gingen sie zum ersten Mal wie ein Paar.
Sie hatten sich in die hinterste Ecke im Kellergewölbe des Kleinen Ratskellers verzogen und Landbier bestellt, ein weiches und etwas dunkleres Bier, das Charlotte gern trank, weil es sie an ihre Studienzeit in Cambridge erinnerte, wo sie viel Ale getrunken hatte. Außerdem hatte es diesen schönen Bügelverschluss, mit dem man so herrlich Pffump! machen konnte.
»Prost.« Sie saßen sich wieder gegenüber, der enge Winkel ließ nichts anderes zu, obwohl Benjamin ihr gern den Arm über die Schultern gelegt hätte. »Jetzt musst du mir aber mal erzählen, was es mit der anderen Anzeige auf sich hatte«, verlangte er. »Sonst habe ich deine ganze Wäsche gebügelt und weiß immer noch nichts von dir.« Sie prustete und hätte sich fast verschluckt. Dann sah sie sich um. »Echt?« Benjamin nickte. »Bist du sicher, dass du das hören willst?«
Er nickte.
Charlotte sah ihm in die Augen. »Na gut.«
Benjamin hatte seinen Kopf auf beide aufgestützte Hände gelegt und sie mit so einem treuen Hundeblick angesehen, dass sie schlecht Nein sagen konnte. »Also die Anzeige. Das war eher so aus Spieltrieb.« Sie überlegte. »Ich fang mal woanders an.«
Eine ältere, gestandene Bedienung kam durch den Raum, die Wirtin, wie Benjamin annahm. »Nimmst du auch einen Aquavit?« Charlotte nickte. »Zwei Linie, bitte.« Die Wirtin nickte und räumte den Nachbartisch ab. Außer ihnen saß niemand mehr hier unten. »Der ist um die halbe Welt gesegelt, bevor er verkauft wird«, erklärte Benjamin.
»Ich weiß.« Charlotte schien unsicher zu sein und nippte an ihrer Bierflasche.
»Also, Zen. Ich hatte dir schon erzählt, dass mein Vater ein französisches Restaurant in Kassel hat. Das lief eine Zeit lang ganz gut, weil es nahe beim Zentrum lag. Er hatte eine schöne Jugendstilvilla gekauft und die liebevoll restauriert. Das Restaurant hatte Charme und kam an. Kochen konnte er auch.«
»Aber?«
»Tja, er machte noch ein zweites auf, in Wilhelmshöhe, das lief dann weniger gut, kostete aber viel mehr. Und er hatte dafür einen Mietvertrag auf fünf Jahre abgeschlossen.«
Benjamin ahnte schon, was da kam.
»Er wollte, dass ich da arbeite und den Laden übernehme. Du weißt schon. Junge, attraktive Tochter, gute Figur, bringt Kunden. Das war mir zu blöd, wo ich doch schon eine Zusage aus Cambridge hatte. Das wollte ich nicht aufgeben. Da hat er mir dann seinen Zuschuss gestrichen, um Druck zu machen. Weißt du, ein Restaurant zu betreiben ist auch nicht schlechter als irgendein anderer Job, ich hab’ nix dagegen zu arbeiten, aber dann hätte ich in Kassel bleiben müssen. Vielleicht noch hier in Göttingen.«
»Du hättest doch auch in Cambridge was finden können.«
»Na ja, dazu hätte ich erst mal da sein müssen, ohne die Stütze von meinem Alten. Ich hatte zwar etwas BAFöG, aber allein reichte das nicht.«
»Und?« Benjamin traute sich nicht zu denken, was er dachte.
»Nicht was du denkst.« Sie sah ihn verärgert an, als ob sie Gedanken lesen könnte. »Ich wollte mit einer Freundin verreisen, nach Réunion, das gehört zu Frankreich, bei Mauritius.« Benjamin nickte, er hatte davon schon gehört.
»Jana. Eine Russin. Eine damalige Freundin von mir, lebt heute in den USA.« Charlotte wirbelte mit den Händen in der Luft vor ihm herum, als ob es das erklärte. »Ich kannte sie aus einem Psychologie-Seminar. Jana, na ja, also, wie soll ich das sagen.«
Charlotte räusperte sich. »Sie strippte da in Düsseldorf in einem Lapdance-Laden. Sie machte schwer Kohle, und sie meinte, ich wäre da der Hammer.« Sie strich sich unbewusst und zärtlich mit der Linken über ihre rechte Brust. Für diese Bewegung hätte er töten können, dachte Benjamin. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche. »Und? Hast du da etwa mitgemacht?«
»Ja.« Sie hielt sich an der Flasche fest. Benjamin schluckte.
Die Wirtin kam mit dem Aquavit, und sie schwiegen beide, bis die kalten Gläser auf dem Tisch standen. Benjamin kippte seinen weg. »Noch einen«, sagte er zur Wirtin. Den brauchte er jetzt. »Du auch?« Charlotte schüttelte den Kopf, die Wirtin ansehend, und hielt sich weiter an ihrer Bierflasche fest. Ihren Schnaps ließ sie vor sich stehen. Die Wirtin verschwand mit Benjamins leerem Glas auf ihrem schwarzen, runden Tablett.
»Erst habe ich nur an der Stange getanzt. Na ja, was heißt getanzt. Mich irgendwie erotisch bewegt, mir hat keiner gezeigt, wie das geht. Du hast da zwei silberne Sterne vorne drauf, das absolute Minimum an Bekleidung. Du würdest dich wundern, man fühlt sich weniger nackt mit diesen Sternchen. Damit traust du dich dann raus. Das erste Mal konnte ich die Hände gar nicht runternehmen«, sie zeigte ihm, wie sie das gemacht hatte, die Handflächen überkreuzt auf den Spitzen ihrer Brüste. Gott, dachte Benjamin, aufstehen sollte ich jetzt besser nicht.
»Unten rum hast du einen Tanga an, sehen kann man da nichts.« Sie nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken der anderen Hand den Mund ab. »Beim zweiten Mal hat mir das dann schon Spaß gemacht, an der Stange zu tanzen«, gab sie zu. »Wie die Männer kucken, mit offenem Mund, wenn du deinen Arsch kreisen lässt und die Stange zwischen die Brust nimmst. Ein Gefühl der Macht, ich weiß. Große Macht über die armen Kerle da unten. Geschämt habe ich mich aber nur die ersten fünf Minuten.«
»Und dann?« Benjamin war zwischen verschiedenen Gefühlen hin und her gerissen. Lust, Abneigung, Angst vor Enthüllungen, die ihn abtörnen würden.
»Jana hat mir vorher alles erzählt. Mit Tanzen ist es nicht getan. Das soll die Gäste nur weichkochen. Geld bekommst du dafür nicht viel.« Benjamin trank sein Bier aus. Hoffentlich nicht, dachte er. Bitte nicht. Ich hatte mich schon so auf dich gefreut, Charlie.
»Ins Bett musst du mit keinem, da läuft nichts, falls du das denkst«, sie schaute ihm direkt in die Augen. »Du sprichst die Leute an. Die stehen da, kucken wie die Ölgötzen und sind steif wie ein Brett und trinken ihr Zeug, einige stehen auch da und geben vor ihren Freunden an. Aber wenn du hingehst und sie ansprichst, sind sie wie Wachs. Du siehst, was sie denken und wollen. Aber mit anfassen oder mehr ist nichts. Nicht erlaubt. Sie können dich einladen, was teuer ist, da mit ihnen zu stehen, dein Körper nur Zentimeter vor ihnen entfernt, sie reden dann bemüht mit dir, zahlen viel Geld für jede Minute, obwohl ihr Körper brennt. Helle Aufruhr. Die meisten wollen dann, dass du für sie tanzt, du weißt schon, private Dancer.«
Читать дальше