Charlotte sagte nichts.
»Wir dürfen also gar nichts tun«, schob er nach. »Nur dann können wir etwas verändern. Durch Nicht-Handeln.«
Sie sah ihn weiter an, ohne zu blinzeln, sagte diesmal aber etwas.
»Wovon lebst du eigentlich, Zen?«
»Jobs und Projekte am Institut. Förderungen von der EU dafür. Gegenwärtig arbeite ich an einem Projekt für die Reduzierung des Methan-Anfalls bei der Viehzucht.«
»Siehst du?«, fragte sie. »Du würdest verhungern, wenn du als kleines Schräubchen aus dem Apparat aussteigst, und niemand würde es bemerken. Ein anderes Schräubchen wäre schnell gefunden. Was der Zauberlehrling angefangen hat, muss er weitermachen, das ist unser Fluch, Zen. Wenn kein Meister kommt und uns den Besen wegnimmt, bleibt alles beim Alten. Du kannst das nicht stoppen, wenn du dich einfach nur verweigerst. Ich hoffe, das ist dir klar, mein Lieber. Denn den Meister gibt es leider nicht.«
»Vielleicht doch. Das ist schwierig, lass uns da ein andermal drüber reden, Charlie«, schlug er vor. »Ich möchte diese blöde Idee weiter in Gedanken durchspielen, mehr nicht.«
Die Bedienung kam mit dem Wein, einem Barolo von 2006 für siebenundvierzig Euro, den sie ausgesucht hatte. Benjamin hatte fast ein schlechtes Gewissen. Den konnte er sich eigentlich nicht leisten.
Er nahm das Glas auf und probierte. Der Wein war sehr gut. Benjamin nickte der Kellnerin zu. Die sagte nichts, schenkte erst Charlotte ein und dann ihm. Sie zog wortlos davon, nachdem sie die Flasche laut auf den Tisch geknallt hatte.
»Bisschen muffig, die Kleine, was?«, bemerkte Benjamin.
»Hat vermutlich ihre Tage«, mutmaßte Charlotte, der Kellnerin nachsehend. »Vielleicht können wir ihr ja helfen, das loszuwerden.«
»Rein theoretisch.«
»Genau. Theoretisch könnten wir der Menschheit die Lust am Kinderkriegen nehmen, Zen, aber rein praktisch kommt da hinten meine Suppe«, sagte Charlotte. »Und das hat jetzt Vorrang. Zum Wohl, mein Lieber!« Sie hielt ihm ihr Glas hin, er hob seines, beide nahmen einen Schluck und sahen sich in die Augen. Wenn man das nicht tat, gab es sieben Jahre lang schlechten Sex, wie beide wussten.
Charlotte rieb sich die Hände und freute sich wie ein Kind. »Jetzt essen wir erst mal was!«
Benjamin hatte keine Vorspeise bestellt. Er sah Charlotte zu. Wie sie strahlte, von innen heraus, wie sie beim Essen und Freuen leicht in den Schultern hüpfte, wie ihr Busen vibrierte, wie sie beim Sprechen mit den Händen flatterte. Eine fantastische Frau. Er seufzte.
Da ging er hin, sein selbst gewählter Zölibat. Er stellte sich vor, wie sie sich aufbäumte, wie sich ihre Lust anhörte, wie sie sich in seinen Brusthaaren verkrallte. Er hatte sich ganz schön verändert in diesen Tagen. Wo war seine innere Ruhe geblieben, diese ätherische Freude am Sein?
Und nun wollte er mit dieser wunderschönen Frau vor ihm, halb im Scherz, halb als Fantasie, den gentechnischen Umbau der Gesellschaft anstoßen? Wollte er nicht lieber viele, viele Kinderchen aus ihr herauspurzeln sehen? Seine Kinder? Warum kam sein Geist nur auf so völlig unterschiedliche Ergebnisse wie sein Körper? Hatte sein Bauch nicht sonst auch immer recht gehabt?
Sein Geist sagte ihm, dass diese Geilheit und Lust genau das war, was er doch loswerden wollte, das Übel, das die Menschheit die Natur ruinieren ließ.
Sein Bauch dachte heute ganz anders. Er erklärte ihm, dass er schon immer am besten gewusst hätte, was gut für Benjamin war, dass er langsam mal zum Schuss kommen sollte, und dass der Kopf nicht so rumspinnen sollte. Der würde sowieso immer nur die Hälfte verstehen und die auch noch falsch interpretieren.
Nimm sie dir, sagte der Bauch. Aber der Kopf drängelte sich vor, wenn der Bauch Sprechpause hatte.
»Weißt du was«, sagte er schließlich, nachdem er ihr dabei zugesehen hatte, wie sie die Suppe in Angriff nahm, »wir müssen da mal ganz nüchtern drüber reden, ob das tatsächlich Sinn macht. Und wir sollten auch mit niemand anderem darüber reden.«
»Ist ja nur ein Gedankenspiel«, sagte Charlotte zwischen zwei Löffeln Suppe. »Lecker, übrigens. Hättest dir auch eine bestellen sollen.« Sie stießen mit ihren Gläsern an und tranken noch einen Schluck. »Aber interessant ist die Idee doch. Wir können das doch als reines Gedankenexperiment weiterverfolgen. Nimm dir was von meinem Brot«, forderte sie Benjamin auf. »Das ist echt lecker.«
Benjamin nippte nachdenklich an seinem Wein und aß ein Stück Brot. Er nickte. Es war lecker.
Charlotte suchte in seinem Gesicht nach seinen Gedanken.
Sie hatte ihre Suppe ausgelöffelt und wischte sich mit ihrer Serviette den Mund.
»Nehmen wir mal an, das klappt alles. Aber weißt du, wie groß die genetischen Datenmengen sind, die du brauchst, um den kompletten weiblichen Zyklus umzustellen? Das schaffen deine Bakterien nie. Vielleicht sollten wir ganz woanders ansetzen.«
Sie faltete ihre Serviette wieder zusammen.
»Vielleicht sollten wir als erstes den Männern die Aggressivität nehmen, denke ich. Wäre ein guter erster Schritt. Ich glaube nämlich, dass es das ist, was unsere Zivilisation so destruktiv macht. Die Aggression, unsere Schimpansen-Gene. Vielleicht sollten wir die in Bonobo-Gene umtauschen. Schluss mit Krieg und Aggression machen. Gegeneinander und gegen Frauen. Die ist nämlich auch alltäglich, mein Lieber.«
Benjamin sah seine Vision von einer triebbefreiten menschlichen Gesellschaft, die die Natur in Ruhe ließ, dahinschwinden. »Das wäre viel schwieriger. Und beides können wir nicht durchziehen. Aggressivität ist viel tiefer verankert. Da kommen wir niemals ran.«
Er sah den Unwillen, der ihre Mundwinkel nach unten zog. Ihr war das wichtig. Hatte sie da was erlebt? Als Frau?
Er goss Charlotte und sich nach. Die Flasche war schon fast leer, und langsam spürte er die Wirkung des Weins. Er schaute auf dem Etikett nach. »Dreizehn Umdrehungen«, teilte er Charlotte mit, während er seinen Blick stabilisierte. Er hatte schon zu viel getrunken und war den Alkohol nicht gewohnt. Doch das durfte er sich als Mann nicht anmerken lassen.
Sie ergriff ihr Glas und trank es fast aus. »Guter Geschmack hat auch was mit Salz zu tun«, sagte sie. »Man trinkt dann einfach mehr.«
»Da verdienen die auch mehr dran als am Essen«, steuerte Benjamin bei. »Ich glaube, ich bestelle noch mal ein Fläschchen Wasser für uns und zwei Gläser Wein zum Hauptgang.« Er schaute sich nach der Kellnerin um. Da sie fast allein in dieser Ecke des Restaurants saßen, war niemand zu sehen.
»Ich mag jetzt nicht an Arbeit denken«, gestand Benjamin. »Lass uns das Thema ein andermal fortsetzen.« Er klopfte an sein leeres Glas.
Die Kellnerin war in der Küche gewesen, war aber in Gedanken bei ihnen gewesen. Sie erschien mit dem Hauptgang, einer Lammhaxe vom Harzer Weidelamm für Charlotte und rotem Thai-Curry mit gebratenem Tofu für Benjamin. Das Lamm roch verführerisch, selbst für den Vegetarier Benjamin. Fett, Salz und karamellisierter Zucker, alles was ein menschlicher Jäger und Sammler vor zehntausend Jahren noch dringend benötigt hätte, dachte er. »Können wir bitte zwei Gläser von dem Barolo bekommen, bitte?« Die Kellnerin nickte, sammelte Charlottes Teller und Löffel ein und schlich davon.
»Das Ganze wäre eine Art Stafettenlauf«, fing Benjamin wieder mit seinem Thema an. »Eine Information wird über Vektoren weitergegeben. Wir haben die Werkzeuge dafür. Aber wir bräuchten auch eine Art Software, ein Programm, das steuert, wie das Ganze ablaufen kann und soll. Sonst ist das völlig chaotisch. Versuch und Irrtum. Ein amorphes Netzwerk, ein biologisches Internet, ohne Kopf, aber mit vielen Schwänzen.«
Charlotte grinste ihn spöttisch an. Männer.
Benjamin grinste zurück.
»Ich glaube, ich kenne da wen«, sagte Charlotte vorsichtig. »Ein völliger Netzwerk-Freak. Du weißt schon.« Sie wedelte erklärend mit den Händen in der Luft und hüpfte dabei ein wenig auf und ab, was schöne wellenförmige Schwingungen über ihren Oberkörper laufen ließ. Komm, wir lassen das Essen stehen und gehen zu dir, hätte er fast gesagt. War das der Alkohol?
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