Bestimmt würde sein Vater, Scheich Sedat Suekran, diesmal stolz auf ihn sein.
Der Parcours war insgesamt ca. fünf Kilometer lang und war ursprünglich zum Training der Kämpfer des Scheichs bestimmt. Er bestand aus verschiedenen Hindernissen, die es zu überwinden galt: Zum einen war eine Steilwand zu erklettern, sich an einem Seil hochzuhangeln, um sich zum nächsten Baum zu schwingen oder auf Ellenbogen unter einem Holzgestell durchzurobben. Vor allem aber galt es den Weg laufend zurückzulegen, was durch diverse Hürden, die einfach übersprungen werden mussten, erschwert wurde.
Und dann gab es noch vier Haltepunkte, an denen diverse Waffenübungen absolviert werden mussten: Messerwerfen, Bogenschießen, Pistole und Gewehr.
Es hatte mit zwei Übungen angefangen und im Laufe der Zeit war der Parcours daraus geworden.
Seit zwei Jahren hatte der Scheich es eingeführt, dass alle Jungen einmal im Monat, anstatt die Schulbank zu drücken, besagten Parcours meistern mussten. Offiziell war es eine freiwillige Angelegenheit, jedoch würde jeder Junge, der nicht nachher Ziel des Spotts der anderen werden wollte, teilnehmen. Rayan liebte den Parcours, er rannte gerne und war beweglich und schnell.
Neben diesen monatlichen Wettkämpfen bestand sein Vater darauf, dass er täglich trainierte.
Für sein Alter von 13 Jahren war er mit fast 1,70 m bereits recht groß und das tägliche Training hatte ihm schon ein paar Muskeln beschert. Mit seinen dunklen, fast schwarzen Haaren, die nur im Sonnenlicht dunkelbraun leuchteten und seinen dunkelblauen Augen war er ein recht attraktiver Bursche, dem man jetzt schon ansehen konnte, dass er später eine ganze Reihe Frauen um den Finger wickeln würde.
Auch der Scheich war schlank und hochgewachsen. Die Haarfarbe hatte Rayan von ihm geerbt, jedoch hatte sein Vater tiefschwarze Augen, die schon so manchem das Fürchten gelehrt hatten. Sein Alter war aufgrund der sonnengegerbten Haut schwer zu schätzen, doch mochte er in etwa 50 Jahre alt sein, vielleicht auch etwas mehr.
Verschwitzt und mit hochrotem Gesicht rannte er auf seinen Vater zu, der am Eingang des Parcours mit den anderen Männern auf die Ankunft der Jungen wartete.
Als er den Ausdruck seines Vaters sah, wurde er unsicher.
„Was soll das gewesen sein?! Du hast gerade einmal zwei der 14 Ziele getroffen. Wieso nimmst du keine einzige der Aufgaben ernst, die man dir gibt? Wir sind hier nicht im Kindergarten und blödeln nur herum.
Du wirst jetzt hinübergehen und eine Stunde lang Schießen üben. Und heute Abend wirst du die Ställe ausmisten. Abendessen ist gestrichen.“
Rayan stand wie vom Donner gerührt. Statt des erwarteten Lobes eine erneute Standpauke vor all seinen Freunden. Und dann Ställe ausmisten? Sein Vater wusste genau, dass die Jungen seiner Gruppe heute Abend eine Nachtwanderung zum See geplant hatten, das konnte er nun wohl vergessen, wieder einmal!
Auf einmal wurde er wütend. Und bevor es ihm bewusst wurde, schrie er seinen Vater an. Er wusste nicht einmal genau, was er da schrie, aber er musste sich einfach Luft machen.
Das Gesicht seines Vaters wurde mit jedem Wort dunkler, das hätte ihm Warnung genug sein sollen. Doch er konnte nicht aufhören, zu lange schon hatte sich sein Frust aufgestaut.
Und dann traf ihn der Schlag. Mitten auf die rechte Wange und mit einer Wucht, die ihn zu Boden warf. Zunächst wusste er nicht, was passiert war, doch dann dämmerte ihm, dass sein Vater ihn mit voller Kraft geohrfeigt hatte. Blut lief ihm über die Wange, seines Vaters Rubinring hatte ihm unter dem rechten Auge die Haut aufgeschnitten.
„Du tust, was ich dir sage und morgen unterhalten wir uns über dein Verhalten von gerade.“
Unterhalten bedeutete, dass er seinem Diener befehlen würde, Rayan mit dem Lederriemen zu verprügeln, so viel war klar. Er überlegte kurz, ob er zu weit gegangen war, sein Vater hatte ihn noch nie selbst geschlagen, dafür gab es Personal. Doch dann packte ihn auf einmal so ein Hass, dass er erschrak. Nie konnte er etwas gut genug machen, nie bekam er Lob, immer nur musste alles noch besser und noch schneller sein. Längst hatte er in allen sportlichen Übungen seine Freunde überholt und auch in allen Waffenübungen wie Bogenschießen, Messerwerfen und Fallen stellen war er bei den besten. Im Messerwerfen kam keiner an ihn heran. Und doch war es nie genug.
Er musste immer extra Runden drehen, zusätzliche Übungen machen, mit und ohne Waffen und bekam obendrein noch Strafen.
Apropos Strafe, ihm wurde auch schon ein wenig mulmig vor dem nächsten Morgen.
Und in diesem Moment wurde ihm klar, was er tun musste.
Er versuchte aufzustehen und schüttelte vorsichtig den Kopf, um klar zu werden. Dann ging er los, um seine wenigen Sachen zu packen. Er würde noch heute Nacht aus dem Tal von Zarifa abhauen. Und nie mehr zurückkehren.
1989 - Zarifa - Der Anfang vom Ende
„Wer von Euch ist der Anführer?“, herrschte der Tarmane die kleine Gruppe von Rebellen an. Er war ein kleiner, fettleibiger Mann mit strähnigen, mausgrauen Haaren und hatte vom linken Auge über die ganze Wange eine leuchtend rote Nabe laufen, sodass Rayan ihn für sich spontan „Scarface“ taufte.
Seine Leute traten dicht um ihn herum, so als wollten sie ihn schützen. Sie waren alle jung: fünf Männer und eine Frau. Sie wussten genau, dass er besonders gefährdet war, auf seinem Kopf stand ein Todesurteil.
„Keiner? Dann müsst ihr das alle büßen – ganz wie ihr wollt“, und er wollte sich schon abwenden, als Rayan sie zur Seite schob. Stolz richtete er sich zu voller Größe auf. „Ich bin das. Ich bin der Anführer dieser Gruppe“.
Der Tarmane musterte ihn: „Du halbe Portion? Na kein Wunder, dass wir Euch gefasst haben. Wurde Zeit, ihr habt ja lange genug Unsinn gemacht.“ Er lachte über seinen eigenen Witz.
Mit halber Portion meinte er wohl eher das Alter, denn Rayan war noch 15, in mehr als einem halben Jahr erst würde er 16 werden. Die Zeit in der Wildnis mit den Rebellen hatte seinen Körper noch durchtrainierter werden lassen. Die tägliche Bewegung im Freien und das viele Trainieren sorgten dafür, dass er kein Gramm Fett besaß, dafür jede Menge Muskeln. Außerdem war er gewachsen, er maß inzwischen stolze 1,82 m, und wie es aussah, würde er auch noch etwas weiter wachsen.
Nach seiner Flucht von Zarifa und vor seinem Vater hatte er wenige Tage in der Wildnis allein gelebt. Das war kein Problem für ihn, er war schon von früher Kindheit an immer draußen gewesen und wusste, worauf es ankam.
Dann hatte er die Spuren der Rebellen gefunden und sie aufgespürt. Er erinnerte sich, seinen Vater von ihnen reden gehört zu haben: Es handelte sich überwiegend um Menschen, die der Scheich aus Zarifa hatte verbannen lassen oder die freiwillig vor seiner Tyrannei geflohen waren.
Sie hatten in der höheren Bergregion von Zarifa, so weit weg, wie möglich vom Tal in dem ihr früherer Herr lebte, eine kleine Siedlung angelegt, die schwer erreichbar in einem einsamen Seitental lag. Alte, Junge und mittlerweile auch ein paar Babys gehörten zu der Gruppe, die ca. 80 Personen umfasste.
Durch kleine Räubereien besorgten sie sich die notwendigsten Dinge, die sie zum Leben brauchten und hatten sich damit eine kleine Heimat geschaffen.
Es ärgerte den Scheich maßlos, dass es ihnen so gut ging, sollten sie doch durch die Verbannung ein Einsiedlerdasein fristen und vor sich hin darben. Er hatte sie daher alle kurzerhand zu „Staats- und Stammesfeinden“ erklärt.
Als seine Krieger vor zwei Jahren eine kleine Gruppe ausfindig machten, ließ er alle hinrichten. Selbst die beiden Frauen, die mit dabei waren, wurden auf seinen Befehl hin enthauptet.
Das verbitterte die Rebellen so sehr, dass sie fortan begannen, in kleinen Truppen organisierte Angriffe auf die Männer des Herrschers durchzuführen. Immer aus dem Hinterhalt und lediglich wenn es sich um wenige Personen handelte. Es war ihnen gelungen, einzelne Krieger zu töten. Doch ihr Rachedurst war bei Weitem noch nicht gestillt.
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