Der zweite Leibwächter hatte nun ebenfalls seine Glock 17 gezogen. Er bevorzugte diese Waffe, da sie mit 19 Schuss den unschätzbaren Vorteil hatte, dass man auch in längeren Schusswechseln selten nachladen musste. Außerdem war sie für ihre Zuverlässigkeit bekannt. Aufmerksam suchte er die Gegend nach weiteren Attentätern ab und blickte ab und zu hilflos zu seinem am Boden liegenden Kollegen hinunter.
Die Sanitäter legten den Leibwächter auf eine Bahre, konnten aber nur noch den Tod feststellen.
In diesem Moment kamen die Soldaten zurück, sie hatten den Attentäter überwältigt und schleppten ihn in Handschellen mit sich.
Auch mehrere Polizeifahrzeuge waren inzwischen angekommen.
Der Scheich rief etwas, woraufhin die Beamten den Mann in Handschellen zu ihm hinüberbrachten. Als der Mann dies bemerkte, wehrte er sich mit allen Kräften, wie ein gefangenes Tier, das panisch gegen seine Fesseln kämpft. Unmittelbar vor dem Scheich brachten sie ihn zum Stehen. Was er sagte, konnte Carina nicht hören, doch als sie seinen Blick sah, rannte es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen und ein Blick in die Augen zeigte, dass kein bisschen Freundlichkeit in diesem Lächeln lag. Diese Augen, die Carina vorher schon so fasziniert hatten, als noch die Unbeschwertheit und der Schalk in ihnen lagen, hatten nun einen ganz anderen Ausdruck. Eiseskälte. Das dunkle Blau der Augen war fast schwarz geworden. Carina musste an das tiefe, kalte Blau des Gletschers denken, den sie im Urlaub in Norwegen gesehen hatte.
Was immer es für eine kurze Bemerkung gewesen war, die der Scheich an den Attentäter gerichtet hatte, er wurde aschfahl und sackte in sich zusammen. Widerstandslos ließ er sich von den Uniformierten in eines der Fahrzeuge verfrachten und wie auf ein Zeichen hin starteten alle gleichzeitig. Der Scheich stieg in die Limousine ein und diese fuhr dann langsam hinter dem Krankenwagen her zum Hauptgebäude.
Wie betäubt ging Carina zu ihrem Sitz zurück, nahm ihr Handgepäck und stieg eine kleine Ewigkeit später zusammen mit den anderen Passagieren aus. Sie hatten warten müssen, bis die Polizei den Tatort gesichert hatte und den Weg freigab.
Der Flugkapitän hatte noch eine Durchsage gemacht, doch die hatte Carina nicht verstanden, sie konnte einfach nicht denken. Rund um sie herum diskutierten alle über das soeben Vorgefallene, doch Carina achtete nicht darauf. Sie beantwortete keine Fragen und ignorierte auch die verstohlenen Blicke, die einige ihr zuwarfen.
„Entschuldigen Sie bitte! Miss?“ Höflich aber bestimmt adressierte sie ein tadellos gekleideter Araber in Englisch. Aufgrund seines starken Akzents war sie einen Moment verwirrt.
„Miss Carina?“ Erst jetzt realisierte sie, dass er mit ihr sprach. Er verneigte sich tief vor ihr. „Mein Name ist Mazin. Scheich Suekran al Medina hat mich gebeten, ihnen seine Ehrerbietung auszusprechen. Sie haben ihm das Leben gerettet. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie nicht gerufen hätten! Wir sind Ihnen alle zu großem Dank verpflichtet. Das wird Ihnen mein Herr nie vergessen. Als Zeichen seiner Freundschaft hat er mich gebeten, Ihnen diese Kette zu überreichen. Sie trägt das Emblem des Scheichs. Das Abbild von Zarifa. Er hat in diesem Land und auf der ganzen Welt viele Freunde. Wenn Sie diese Kette tragen, werden sich manche Türen für Sie öffnen. Tragen Sie sie immer, vor allem solange Sie in Arabien sind. Keiner der Feinde des Scheichs wird es wagen, Sie anzufassen und alle seine Freunde werden Ihnen helfen, wo sie können.
Möge Allah mit Ihnen sein auf allen Ihren Wegen!“
Carina wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie musterte den Mann genauer. Er war auch am Flugzeug gewesen. Der Mann, der den Scheich umarmt hatte, kurz bevor die Schüsse fielen. Sie nahm die Kette, entrang sich einen Dank und stand dann unschlüssig da.
„Was passiert mit dem Mann, der … dem Attentäter?“, fragte sie schließlich mehr aus Verlegenheit.
„Die Polizei nimmt ihn mit ins Gefängnis hier in der Stadt.“ Er betonte den Satz dabei so eigenartig, dass sie das Gefühl hatte, dass das alles sagte und auch wiederum nichts.
„Und wird er dann hier vor Gericht gestellt?“ Immerhin wollte sie ein Buch über ihr Idol schreiben, da konnte sie sich die Gelegenheit, den Prozess zu verfolgen, einfach nicht entgehen lassen.
„Aber selbstverständlich, was denken Sie denn?“ doch der Ausdruck von Wut und Hass auf dem Gesicht des Mannes ließen Zweifel in ihr aufkommen.
Unerwartet fügte Mazin mehr zu sich selbst noch hinzu: „Er war nicht nur ein Leibwächter, müssen Sie verstehen – er war auch ein Freund.“ Einen Moment stutzte Carina, dann erkannte sie, dass er von dem Mann sprach, der getötet worden war.
Dann gab er sich einen Ruck: „Also nochmals vielen Dank für alles.“ Und mit einer weiteren Verbeugung war er in der Menge verschwunden.
Voller Staunen betrachtete Carina die Kette, die sie in der Hand hielt. Es war eine feine, aber stabile Goldkette, an der ein kleines Amulett befestigt war. Der Anhänger war aus massivem Gold, etwa vier Zentimeter im Durchmesser und zeigte einen blauen Wasserfall über dem eine rötliche Sonne, ein silberner Vollmond und drei Sterne abgebildet waren. Wundervoll!
Den materiellen Wert konnte sie schlecht abschätzen, weil sie nicht wusste, aus welchem farbigen Material die Abbildung auf dem Gold aufgebracht war, jedoch spürte sie, dass der wahre Wert unschätzbar war. Sicher verschenkte der Scheich nicht jeden Tag ein derartiges Schmuckstück.
Sie hängte das Amulett um den Hals und fühlte auf einmal Hoffnung in sich aufkeimen. Vielleicht war sie doch nicht völlig umsonst so weit gereist. Sie stieg in ein Taxi und fuhr in ihr Hotel.
Rayan war aufgewühlt und vor allem wütend.
Ibrahim war mit ihm aufgewachsen und hatte ihm aus so mancher Patsche geholfen. Damals, nachdem er von zuhause weggelaufen war, war Ibrahim für ihn da. Er war es auch gewesen, dem es unter anderem zu verdanken war, dass Rayans Leben gerettet werden konnte, als er mit Mühe vor den Häschern seines Vaters fliehen musste. Es war für ihn in den letzten Jahren zudem eine Ehre gewesen, das Leben seines Freundes und Scheichs zu schützen.
Er wusste, dass Ibrahim sehr gläubig gewesen war und hatte ihm vor seinem Tod zugeflüstert, dass er sein Leben gerettet habe, ein Held sei und im Paradies belohnt werden würde. Er würde persönlich dafür sorgen, dass man in Zarifa immer voller Ehrfurcht von ihm sprechen würde. Ibrahim hatte gelächelt und war in seinen Armen gestorben. Was hätte er ihm auch sonst noch sagen sollen? Und wieso hatte dieser unfähige Colonel Abboud nicht seine Leute unter Kontrolle? Wo war der Mann hergekommen? Er musste Helfer beim Bodenpersonal gehabt haben.
Dem Colonel war seine Furcht anzusehen gewesen, als er ihm im Flughafen diese Fragen gestellt hatte. „Er hat auch allen Grund dazu!“, dachte Rayan ohne Mitleid.
Der Colonel hatte auf einen festlichen Empfang und guten Eindruck seiner Leute gehofft und nun dieses Desaster. Er würde seine besten Leute auf die Untersuchung ansetzen.
Als ob das etwas bringen würde!
Aber man hatte ja noch den Attentäter – der würde ihnen jedes kleine Detail verraten, früher oder später. Ob er wollte oder nicht.
Aber nicht etwa die Leute des Colonels würden ihn verhören, oh nein. Das war eine Angelegenheit für seine eigenen Männer. Rayan hatte bereits alles Notwendige veranlasst.
1987 - Zarifa - Der Aufbruch
Die Sonne stand fast senkrecht am blauen Himmel und brannte auf sie nieder, sodass jeder froh war, sobald er ein schattiges Plätzchen aufsuchen konnte.
Schwer atmend blickte Rayan zurück auf den Parcours. Er war zufrieden mit sich. Schneller als alle anderen Kinder hatte er die Hindernisse überwunden. Das war seine persönliche Bestzeit.
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