„Willst du nach Orang Bator?“, fragte mich eine Stimme von irgendwo, die mir verdächtig bekannt vorkam.
Es war nicht die Stimme des Fotografen. Er war verschwunden und schon unterwegs zu einem anderen Auftrag, wie ich aus allen nicht vorhandenen Anzeichen vermutete.
„Eigentlich wollte ich nach nirgendwohin, dahin, wo noch keiner war“, sagte ich.
„Das kann doch nur die Zukunft sein“, antwortete die Stimme.
„Natürlich“, sagte ich.
„Dahin kann ich dich auch bringen, wenn du nichts Besseres vorhast“, sagte die Stimme, „aber nur wenn du mich heiratest.“
„Gerne“, sagte ich, „ich bin zwar schon verheiratet, aber ich mach's trotzdem.“
Da erschien das Auto meines verstorbenen Schwiegervaters. Ich hatte es mit meiner uneingeschränkten Heiratsbereitschaft aus seiner Tiefgarage befreit. Die Stimme gehörte ihm. Ich hatte es mir fast gedacht. Es war einsam ohne meinen Schwiegervater und hatte wohl von meiner Ehe mit meinem Auto gehört. Da hatte es seine große Chance gewittert und recht behalten. Heiraten konnte man gar nicht oft genug. Das war meine neueste Meinung. Heiraten war für das Glück so etwas wie Schuhe für Häuptlingsfüße.
Die Hochzeitsnacht war dunkel, da ging der Mond auf. Ich konnte es nicht verhindern. Ich befürchtete schon, er würde sich zu einem gefährlichen Honeymoon der vierten Kategorie entwickeln, da sah ich den Mann-im-Mond. Viele glaubten nicht an ihn. Ich habe nie zu diesen gehört. Er winkte mir zu. Ich winkte zurück. Dann winkte er mir wieder. Und ich winkte wieder zurück. Keiner von uns hatte gerade etwas Besseres zu tun. Das Auto meines Schwiegervaters war schon gleich zu Beginn der Hochzeitsnacht eingeschlafen, und der Mann-im-Mond hatte keinen Schwiegervater, der ihm ein Auto hätte hinterlassen können. Dann konnte man sich ebenso gut auch zuwinken. Nach vier durchwunkenen Ewigkeiten hörte er auf zu winken. Er rief laut:
„Willst du nicht zu mir herauf kommen?“
„Sehr gerne“, rief ich zurück.
Er reichte mir seine Hand und half mir hoch.
„Wie geht’s?“ fragte ich.
„Gut“, sagte er, „du kannst mich ruhig MIM nennen. Hätte ich Freunde, würde ich ihnen vorschlagen, mich so zu nennen“.
Keiner hatte mir gesagt, dass der MIM ein so umgänglicher Bursche war. Er hatte auf mich immer so distanziert gewirkt.
„Was machst du so, MIM?“ fragte ich, korrekt wie es meine Art war.
„In letzter Zeit habe ich viel gewinkt“, sagte er. „Und du?“
„Ich auch“, antwortete ich.
„Du musst durstig sein nach den vier Ewigkeiten“, sagte er. „Willst du ein Bier?“
„Gute Idee,“ sagte ich.
Er gab mir eine Flasche Bier und nahm sich selbst drei. Wahrscheinlich war er mondsüchtig und konnte nicht anders. Wir tranken. Ein Bier auf dem Mond tat gut.
„Was machst du sonst so?“ fragte ich ihn.
„Ich lasse meinen Bart wachsen und betrachte genau meine Träume,“ sagte der MIM. „Und was ist mit dir?“
„Ich bin im Wahlkampf. Ich will wieder Ministerpräsident werden“, sagte ich.
„Wann wird gewählt?“ wollte er wissen.
„Das ist unbekannt“, sagte ich. „Hauptsache die Einschaltquote stimmt.“
„Wenn sie nicht stimmt, kannst du ja bei mir wohnen“, sagte der MIM und half mir wieder nach unten in das Land der schweren Schritte.
„Viel Glück!“ rief er mir noch zu, bevor der Mond mit ihm unterging.
Fanfaren setzten ein, sobald ich hier unten wieder die ersten schweren Schritte in den Wahlkampf tat. Es wurde sehr laut. Von überall her kamen Fanfarenbläser, bliesen in ihre Fanfaren und blähten dabei ihre Backen zu ansehnlichen Halbkugeln auf, die mich an Frösche in eindeutiger Absicht erinnerten. Es gab tatsächlich etwas Schönes zu anzukündigen. Das Abendessen war fertig. Und ich empfand ein großes Gefühl für dieses fremde Land, das sich mit der Ankündigung eines simplen Abendmahls so viel Mühe gab. Es war ein Gefühl, wie es vielleicht nur ein Fettauge auf einer kräftigen Rindfleischsuppe haben konnte.
Doch ich war ja seit den kürzlichen Ereignissen auf dem Gebiet des Hungers nicht mehr hungrig und wendete mich neugierig den mächtigen, breitschultrigen Bäumen zu, die da plötzlich hinter mir standen wie aus dem Boden gewachsen. Ich blickte sie an, diese schicken, dicken Kerle. Ich sah es sofort. Sie waren Vegetarier, ja ich glaube sogar Veganer reinsten Wassers. Trotzdem machten sie einen friedlichen Eindruck. Aber im Wahlkampf konnte man nie wissen, da sicherte man sich besser mit sicheren Nummern ab. Ich musste ihnen auf den Zahn fühlen. Die Kettensäge war dafür genau das richtige Werkzeug. Bevor sie merkten, was ich vorhatte, waren sie auch schon abgesägt. Es krachte gehörig im Gebälk, als sie umfielen. Dazu setzte sanfte Begleitmusik ein, gespielt von den Musikanten der unverhältnismäßigen Kollateralschäden.
Jetzt begann der schwerste Teil meiner Arbeit. Mit eigenen Augen suchte ich die Bäume nach Zähnen ab, auch nach den versteckten Implantaten, um auf ihnen mit dem Zeigefinger das Unbekannte zu erfühlen. Ich konnte aber keinen einzigen finden. Die Bäume waren zahnlos glücklich, und nur ein Zahnarzt hätte ermessen können, was dieses Glück bedeutete. Ich hatte nun die Gewissheit, tatsächlich unangefochtener Besitzer meiner eigenen, unergründlichen Unwissenheit zu sein, und die abgesägten Bäume hatten so die Welt des Wahlkampfs, eine Welt, in der selbst kleine Fehler niemals verziehen werden, einmal hautnah erleben dürfen. Und alles natürlich gratis. So hatten wir alle was davon. Es war eine äußerst gelungene PR-Aktion gewesen. Diese Bäume würden bei der Wahl sicherlich geschlossen hinter mir liegen. So geht Wahlkampf!
Die Ferien hatten begonnen. Überall sah ich die sonnenhungrigen Wahlvölker in den bunten, kurzen Hosen des korrekt verkleideten Urlaubers auf unbequemen Barhockern herum lungern und farbenfrohe Cocktails trinken. Sie hatten sich ein paar freie Tage in der sengenden Sonne des Südens nun wirklich verdient, ganz gleich ob redlich oder unredlich. Spontan setzte auch ich mich dazu an eine Bar meiner Wahl, um mit diesem versteckten Zaunpfahl den Wahlkampf heran zu winken. Außerdem, und ohne die kurze dabei mit auszuziehen, zog ich meine im Augenblick unpopuläre, lange Hose aus. Mein Wahlkampf machte da natürlich sofort mit und tanzte einen reizvollen, schlangenartigen Tanz auf dem Tresen. Die kurzhosigen Wahlvölker ließen sich verführen, erst von den Cocktails, dann von dem gut gebauten Wahlkampf. Wir tranken zusammen einen nach dem anderen. Am Ende schwanden uns die Sinne. Endlich mal wieder sinnlos sein nach dem ganzen Unsinn! Ich atmete auf. Es war mein schönstes Ferienerlebnis.
Gleich nach meinem schönsten Ferienerlebnis verspürte ich einen uneinheitlichen Hunger von jedweder Art. Ich brauchte jetzt die stärksten Kalorien, die auf dem Markt zu finden waren. Ohne mich besonders anstrengen zu müssen, so wie alle anderen es notgedrungen wegen ihrer veralteten Software tun mussten, hatte ich sofort eine Idee, wo ich sie finden konnte.
Mein unbestechlicher Blick erfasste das Grün einer großen Wiese. Viele Flugzeuge grasten hier friedlich vor sich hin. Es waren sehr alte Flugzeuge. Ihre Flügel waren schon ganz krumm.
„Was macht ihr hier?“ fragte ich sie.
„Wir grasen“, antworteten sie.
„Ich habe Hunger. Darf ich mit euch grasen?“ fragte ich höflich.
„Nur zu“, antworteten sie. „Grase, soviel dein Herz begehrt.“
Nie hatte ich besser gegrast. Es war mein zweitschönstes Ferienerlebnis.
Satt wie die vollgegrasten Hasen gingen wir danach ins Stadion der unbekannten Ergebnisse und sahen uns gemeinsam das Spiel der zwei Mannschaften an. Am Ende hatte meine Mannschaft gegen die andere Mannschaft gewonnen. Schon wieder. Eigentlich wie immer. Und auch noch total verdient. Das hielt kein Wahlvolk auf Dauer aus und im Wahlkampf schon gar nicht. Es war eine gefährliche Situation. Zu viel Gerechtigkeit für mich war auch nicht gut. Auf Wählerstimmen wirkte sie wie reines Gift. Das war mein zweitschlimmstes Ferienerlebnis.
Читать дальше