"Jeder kennt hier jeden und jeder weiß, wessen Haus gesegnet wurde und wessen nicht. Und wie immer und wie es bei uns üblich ist, teilen wir den Reichtum mit den Glücklosen. Wir haben eine Liste gemacht und versucht, alle Gaben so gerecht wie möglich zu verteilen. Wendet euch direkt nach dem Gottesdienst an die Schwester und den Küster. Und schämt euch nicht. Jeden kann einmal ein Unglück treffen."
Die so Angesprochenen wussten dies sehr gut und fühlten sich dennoch nicht wohl in ihrer Haut. Sie wussten eben auch, wie viel Arbeit und Mühe in jeder Feldfrucht steckte und sie hassten es, jemandem, insbesondere der Allgemeinheit, etwas schuldig zu sein. Es machte sie klein und hilflos, was sie nicht waren. Jedenfalls nicht immer.
Scheu die Einen, trotzig die Anderen, reihten sie sich zum Abendmahl ein, das sie immerhin gemeinsam mit allen einnehmen durften, auch wenn es sonst im Dorf durchaus Leute gab, die sie schnitten. Und während des Schlussgesanges des Chores fassten sie Mut, um anschließend die für sie vorgesehenen Gaben abzuholen, für die sie trotz allem dankbar waren und die ihre Familien so dringend brauchten. Die himmlisch duftenden frischen Brotlaibe gingen an die allerärmsten Familien des Dorfes, die diese besonders genießen würden, konnten sie sich sonst doch nur die altbackene Ware des Bäckers leisten.
Für Emma und ihre Familie klang dieser Festtag mit Kaffee und Kuchen am Nachmittag aus, zu dem sich Tante Thea mit Mann und Kind einfand, die einen selbst gebackenen Butterkuchen beisteuerte, belegt mit gehackten Mandeln und Hagelzucker, der sich auf dem noch warmen Kuchen in den Pfützen der geschmolzenen Butterflocken sammelte, dort selbst fast flüssig wurde und abgekühlt eine zarte Zuckerkruste bildete, die Vollendung für den meisterhaft lockeren und trotzdem saftigen Hefeteigboden.
Die Kinder genossen die Leckereien in der Küche, denn der Platz im Wohnzimmer reichte für sie alle nicht aus. Danach hatten sie endlich, nach langer Zeit, wieder etwas Zeit zum Spielen, und Emma ließ mit der Handpuppe und einigen selbst gebauten Stabpuppen, stärkere Zweige von Bäumen, denen sie Stoffreste umgehängt hatten und deren Köpfe aus leeren, bemalten Streichholzschachteln bestanden, ein Märchen der Gebrüder Grimm lebendig werden, was ihre Geschwister begeistert beklatschten.
Am frühen Abend löste sich die fröhliche Runde wieder auf, denn jeder hatte zu Hause Tiere zu versorgen und bereitete sich in Gedanken auf den nächsten Arbeitstag vor.
Sie alle hatten diesen Festtag und diese paar Stunden Verschnaufpause gut gebrauchen können. Sie waren so erschöpft und so müde, wenn man sie ließe, könnten sie zwei, drei Tage in einem Stück schlafen. Aber auch eine noch so bescheidene Landwirtschaft wie die ihre, die zur Selbstversorgung gedacht war, erforderte täglichen Einsatz. Und die Erntezeit war noch lange nicht vorbei. In den nächsten Wochen reiften weitere Obstsorten heran, vor allem die späten Äpfel. Und die Kohlernte begann. Emmas Mutter hatte ein Händchen für Blumen- und Rosenkohl, die nicht überall gedeihen wollten.
Emma und ihre Mutter betrachteten die schön gewachsenen Köpfe und Stauden.
"Wir haben Glück, dass es dieses Jahr nicht so viele Kohlweißlinge gab. Deren Raupen hätten hier leicht alles kahl fressen können."
Emma schüttelte sich.
"Igitt, allein schon die Eier! Und die kleinen weißen Fliegen, die sind auch eklig!"
Emmas angewiderter Blick war unübertrefflich. Aber es lag auch ein wenig Trotz darin. Denn mit Glück hatte die Unversehrtheit der Kohlköpfe rein gar nichts zu tun, gehörte es doch zu Emmas Aufgaben, regelmäßig vor allem die Unterseiten der Kohlblätter zu inspizieren und die dort abgelegten Eier abzustreifen. Die kleinen, weißen Fliegen, die ihr dabei um die Nase flogen, sollte sie möglichst ebenfalls loswerden. Sie nahm dabei ein kleines, flaches Stück Holz zu Hilfe, mit dem sie die meisten Schädlinge abstreifen konnte. Es gab aber Kohlsorten, deren Blattunterseiten sehr rau waren, und Schmetterlinge und Fliegen nahmen dies als Einladung, sich in die tiefsten Winkel der Blattadern zu setzen und dort ihre Eier festzukleben. Da half alles nichts, da kam Emma nur mit ihren kleinen Fingern ran. Sie hasste es und sie wusch sich hinterher besonders sorgfältig die Hände, schrubbte sie mit der Wurzelbürste, so als könnten sich diese Plagegeister anderenfalls auf Dauer in die Poren und Falten ihrer Haut setzen.
Immerhin hatte ihre Mühe sich gelohnt. Zwanzig schöne Blumenkohlköpfe leuchteten ihr entgegen. Und die Rosenkohlstauden waren an ihren Stämmchen dicht an dicht mit großen, festen Röschen besetzt.
"Ein paar Bestellungen habe ich schon," meinte Emmas Mutter, "mit dem Rest gehen wir auf den Markt, am besten noch diese Woche."
Emma nickte. Das Jahr war inzwischen vorangeschritten und die ersten Nachtfröste würden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bis dahin musste ihre Ernte unter Dach und Fach sein, mit Ausnahme einiger Kohlsorten, die leichten Bodenfrost vertrugen.
Die Beiden wanderten weiter durch den Garten. Viele Beete waren schon abgeerntet. Dort, wo vorher die Bohnen gestanden hatten, wuchs jetzt Grünkohl, der sich schon ganz ordentlich entwickelt hatte. In all dem Trubel hatte Emma das fast nicht bemerkt. Bauer Lindemann war für seine Anzuchten von Kohlpflanzen berühmt. Emmas Vater, der Grünkohl mit Bregenwurst, der heimischen, geräucherten Grützwurst, liebte, hatte beizeiten einen ganzen Schwung Pflanzen erstanden und sie höchstpersönlich eingepflanzt. Eines Abends beim Essen, als die Mutter gerade am Herd stand, hatte er beiläufig gemeint:
"Emma, denkst du auch an den Grünkohl?"
Emma hatte ihn mit großen Augen erschreckt angeschaut.
"Nein, nein, alles in Ordnung. Ich hab ihn gerade gepflanzt. Die Jungpflanzen sehen wie immer gut aus. Sie sollen aber noch kräftig wachsen."
Ihr Vater hatte ihr zugezwinkert.
Emma hatte erleichtert geseufzt und genickt. Sie würde ihre regelmäßigen Rundgänge durch den Garten noch eine Weile fortsetzen müssen. Der Grünkohl konnte fast bis Weihnachten im Garten stehen, schmeckte er doch besonders gut, wenn er etwas Frost abbekommen hatte.
Es war fast so ein Abend wie damals. Jeder kaute gedankenverloren vor sich hin. Die einzige, die noch ein wenig Energie hatte, war Thea, die wie immer auf ihrem Sitz herum hibbelte und dabei gerade Fritz das Brot aus der Hand geschlagen hatte. Dieser war so müde, dass er sich kaum auf dem Stuhl halten konnte, starrte entgeistert auf seine kleine Schwester und kämpfte sichtlich mit den Tränen.
"Thea! Dass du nie Ruhe geben kannst! Ab ins Bett!"
Die Mutter sprach laut und so ungeduldig, dass Thea den Kopf einzog und widerspruchslos ins Schlafzimmer verschwand.
Alle anderen kauten schweigend weiter. Schließlich meinte der Vater:
"Es ist Zeit, den Platz für die Kartoffelmiete frei zu machen. Ihr solltet das morgen oder übermorgen erledigen. Da gehe ich mit dem Pflug über Lindemanns Stoppelfeld. Übermorgen Abend bin ich hoffentlich etwas früher da, dann können wir die Miete zusammen vorbereiten. Und danach ist die Düngung im Garten dran, sonst kriegen wir den Mist nicht mehr untergegraben."
Emma verzog das Gesicht. Sie wusste, dass die Herbstdüngung ihres Gartens für eine gute Ernte im nächsten Jahr unerlässlich war. Ihr Misthaufen am Ende des Grundstücks, direkt an der Grenze zu den Flusswiesen, hatte eine stattliche Größe erreicht und musste unbedingt auseinandergenommen und ein neuer Komposthaufen angelegt werden. Mit der Verteilung des Mistes überall im Garten würde ihnen jedoch dieser ganz spezielle Duft eine ganze Weile um die Nase wehen, bis es genug geregnet haben würde, um ihn zu vertreiben. Selbst das Untergraben half da nur wenig.
Immerhin hatten sie die letzte Etappe der Erntesaison erreicht. Am nächsten Tag, nachmittags nach der Schule, begannen Emma und ihre Mutter also, den Garten aufzuräumen. Auf den abgeernteten Flächen hatten sie, mit Ausnahme des Platzes für den Grünkohl, Lupine als Gründüngung ausgesät, die sie nun ernten und als Viehfutter einsetzen konnten.
Читать дальше