1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 „Pass auf dich auf, ja?“
Ihrem Blick ausweichend und ohne auf ihren Wunsch einzugehen, sagte er nur diesen einen Satz:
„Der Kampf ist eröffnet.“
Er ahnte nicht, dass er später einsehen würde, dass der Vorschlag seiner Frau nicht der schlechteste war.
Nina stand auf der obersten Stufe der Treppe, die die untere Wohnung mit den Zimmern im ersten Stock verband, und versuchte, den Gerätkörper des Staubsaugers unfallfrei auf der Stufe zu halten, während sie die oberen Stufen absaugte und das Kabel, das sich dauernd verhedderte, an einer Steckdose im ersten Stock eingesteckt war. Schweiß trat an allen Stellen ihres Körpers aus.
Mein T-Shirt wird wohl ein Fall sein für die nächste Arbeit, die mir bevorsteht, dachte Nina, Waschen, Trocknen und Bügeln der Wäsche von drei Personen.
Es war Samstag, und es war genau eine Woche vergangen, seit ihr Vater den Ruf der Familie im Ort ruiniert hatte. Eine Woche, die katastrophal verlaufen war.
Nicht nur, dass sie in der Schule ständig Ärger mit den Lehrern bekam, weil sie sich im Unterricht nicht konzentrieren konnte und weil sie sich nicht zum Lernen aufraffen konnte, nein, sie schlief schlecht. Träumte wirres Zeug. Träumte, sie sei sitzen geblieben. Dabei war sie bis vor kurzem immer eine der besten Schülerinnen gewesen.
Erstmals musste sie sich durch den Schulalltag quälen, erstmals fühlte sie eine destruktive Leere, die sich den ganzen Tag über hinzog und nie aufzuhören schien. Erstmals gab es Tage, an denen sie ihre Hausaufgaben nicht mehr anfertigte, wenn sie zuhause war. Stattdessen fühlte sie sich depressiv. Wollte weg. Es häuften sich die Momente, in denen sie Babsi beneidete, ihre Schwester, die an ihrem sechzehnten Geburtstag auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Elternhaus verschwunden war.
Wenn ich einen Freund hätte, dachte Nina, wäre es besser. Dann wüsste ich, wohin ich mich verkriechen könnte.
Der Staubsauger röhrte.
„Wann krieg’ ich endlich was zu essen?“ rief ihre Schwester am unteren Ende der Treppe und weinte.
„Vater ist mit Kochen dran“, schrie sie und hoffte, dass ihre Stimme laut genug war, um das Geräusch des Saugers zu übertönen.
„Wann kommt Mama wieder?“ schrie Rebecca zurück.
„Bald!“
„Wo ist sie eigentlich?“
„Sie ist in Kur“, rief Nina, ihre Stimme war schon heiser.
„Was ist eine Kur?“
„Erkläre ich dir gleich! Muss erst sauber machen!“
Nina fragte sich, wie es in Rebecca aussah. Die Kleine nahm das Fehlen der Mutter erstaunlich gelassen hin. Dabei war sie als Achtjährige in ihrer Entwicklung durch die schlechte Stimmung im Elternhaus doch mindestens so gefährdet wie Nina.
War Nina die Einzige, die sich um das Mädchen sorgte? Offenbar, denn ihre Mutter hatte sich nach der Blamage im Dorfgemeinschaftshaus in ein Frauenhaus geflüchtet und sich nur einmal von einer öffentlichen Telefonzelle aus gemeldet. Sie hatte Nina gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.
Keine Sorgen machen, dachte Nina, was denkt meine Mutter sich? Sie hat uns im Stich gelassen!
Ihr Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich alleine im Wohnzimmer einzubunkern, wo er fern sah und sich betrank. Sie war heilfroh, dass Nackas Metallbau ihn noch nicht gefeuert hatte, denn dann würde er den ganzen Tag zuhause herumsitzen, und das wäre für Nina das Schlimmste, denn zuhause hatte sie mehr und mehr Angst, ihrem Vater zu begegnen. Obwohl er bis jetzt noch nicht ausfallend gegen Nina geworden war.
Wenn man an den Teufel denkt, dachte Nina, dann stolpert er doch tatsächlich zur Haustür hinein, als ob ich noch nicht genügend Probleme hätte.
Michael trug eine Flasche mit klarem Inhalt und einer aufgemalten gelben Birne auf dem Etikett in der Hand.
Beruhige dich, Nina, dachte sie, es ist nur Zitronenlimonade und du brauchst eine Brille.
Michael blieb vor der Treppe stehen, blickte sie an, gestikulierte und brummte etwas, das Nina durch das laute Brummen des Reinigungsgerätes nicht verstand. Nina drückte auf den Ausschaltknopf des Gerätes.
„Was hast du gesagt?“
„Pass … pass … bloß auf … auf der Treppe“, wiederholte Michael, „dass du nicht herunterfällst! Denn wenn du dir das Bein brichst, dann … dann … dann schlag‘ ich dir in die Fresse!“
Nina drückte erneut auf den Knopf, um den Sauger wieder einzuschalten. Michael trottete sich in die Küche.
„Fuck you“, rief sie ihm hinterher, in der Gewissheit, dass er es nicht hören konnte, weil der Staubsauger so laut war.
Wozu tu ich mir das hier an?, fragte Nina sich, ich könnte Becky zu Oma bringen, Oma klagt das Sorgerecht für sie ein, und den Alten, den lassen wir hier vergammeln. Dann bereite ich mich in aller Ruhe auf die Zusammenführung mit diesem Basti an Gründonnerstag vor, die Christina so schön vorbildlich ohne mein Wissen arrangiert hat. Vielleicht ist er der Junge, auf den ich warte. Wahrscheinlich ist er es nicht, aber dann habe ich es wenigstens versucht.
Nina brachte den Staubsauger zurück in die Kammer, holte sich dort einen Eimer, füllte ihn mit Wasser und Spüli und begann mit Staubwischen.
Renate hatte sich in ein Frauenhaus geflüchtet. Hatte Michael sie in den letzten Jahren vermehrt geschlagen, wenn er getrunken hatte, fühlte sie sich seit der Attacke vom Geburtstag des Bürgermeisters in dauernder Gefahr.
„Wie hatte es soweit kommen können?“, hatte die Sozialpädagogin im Edith-Stein-Heim gefragt, an dem Tag, an dem sie die streng geheime Adresse aufgesucht hatte.
„Das Ziel unserer Einrichtung ist nicht der dauerhafte Aufenthalt. Sie müssen sich den Problemen stellen. Das heißt, dass Sie sich Ihrer Vergangenheit stellen müssen.“
Den ganzen Tag ging es ihr im Kopf herum. Das Gespräch hatte Renate desillusioniert.
„Ich pflege einen familientherapeutischen Ansatz, Renate. Du kommst um ein Gespräch mit deinem Ehemann nicht herum. Früher oder später wirst du dieser Konfrontation nicht aus dem Weg gehen können. Und auch die Töchter werden in diese Gesprächstherapie mit einbezogen werden müssen. Wo sind deine Töchter?“
Renate hatte auf diese Frage zwar gewartet, aber keine Antwort parat. Schuldbewusst blickte sie unter sich, als das Gespräch auf dieses heikle Thema kam.
Wie konnte sie ihre acht und sechzehn Jahre alten Töchter mit diesem Scheusal alleine lassen? Ihr war klar, oder besser, hätte klar sein müssen, dass es für eine Sozialpädagogin mit der langen Erfahrung einer Margarethe Baltes kaum nachvollziehbar sein dürfte, dass Renate Nina und Rebecca im Haus der Familie zurückgelassen hatten.
Renate war davon überzeugt, dass die beiden dort sicher waren. Michael würde seinen Töchtern nie etwas antun. Das hatte er nie getan, und das würde er nie tun. Wie er mit ihr umsprang, war das Eine, wie er mit seinen Töchtern umging, war das Andere. Da war er ein liebevoller Vater, der für die Anliegen seiner Töchter ein offenes Ohr hatte. Und sogar dann, wenn er komplett den Überblick verlor, hatte er noch nie die Mädchen im Visier gehabt! Er tadelte sie höchstens in seinen lichten Momenten, und die waren seltener geworden.
Es war eher Michael, der die Hilfe seiner Töchter beanspruchen würde. Noch nicht jetzt, das wusste sie, doch sie wusste genau, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen würde. Und wenn Michael diese Hilfe dann nicht bekäme, entweder weil die Töchter nicht mehr in Altweiler wohnten oder der Kontakt abriss, dann wäre Michael alleine.
Wenn sie darüber nachdachte, dann überkam sie das Mitleid mit einem Menschen, den sie einmal geliebt hatte wie sie noch niemals zuvor und niemals danach einen Menschen geliebt hatte oder würde lieben können.
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