1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Doch wusste sie auf der anderen Seite genau, von wem er keinerlei Hilfe mehr erwarten konnte. Von ihr.
Würde diese Sozialpädagogin sie verstehen? Wie soll diese vertrocknete Zwetschge etwas davon verstehen, dachte Renate, sie hat doch nicht die geringste Lebenserfahrung. Doch im nächsten Augenblick tadelte sie sich dafür, dass sie solche Gedanken hegte in Bezug auf eine Frau, die ihr doch helfen sollte. Kooperiere, dann bist du früher hier draußen, flüsterte ihre innere Stimme ihr zu.
Renate saß da, ganz verschüchtert. Eine Frau von Mitte 40, zierlich, doch gut aussehend, ihr schwarzes Haar noch kaum ergraut.
Das Gespräch mit Margarethe war anstrengend gewesen, doch wie beide Frauen zuvor schon geahnt hatten, endete es zunächst ohne Ergebnis.
„Ich bin durchaus in Sorge um Nina und Rebecca“, sagte Margarethe Baltes nun, „doch ich hoffe, dass es stimmt, was du sagst und dein Mann deinen Töchtern nichts antun wird. Ich habe schon anderes erlebt.“
„Ich kann es mir vorstellen. So etwas wie Familiendramen meinst du, oder?“
„Die Presse nennt es verniedlichend Familiendrama, wenn ein Mann seine Familie ermordet, aber ist dieser Begriff berechtigt? Kann man etwas ein Drama nennen, in dem es nur einen Protagonisten gibt und die anderen Beteiligten nicht einmal Statisten sind? Unbeteiligte, deren Leben beendet wird von einer Person, der sie vertraut haben?“
Renate nickte.
„Hast du mit deinen Kolleginnen darüber gesprochen?“
„Mit meinen Kolleginnen? - Bei Aldi??“ antwortete Renate halb entrüstet, halb belustigt, „das soll wohl ein Witz sein, oder?“
„Wieso?“
„Du kannst im Kollegenkreis bei Aldi über deine privaten Probleme reden. Du kannst aber auch ein Plakat aufhängen, am Parkplatz gegenüber, dann hast du den gleichen Effekt. Weißt du, wie hoch die Frauenquote bei Aldi ist?“
„Hast du im privaten Umfeld mit jemandem gesprochen?“
„Meine Mutter ist siebzig. Wir waren zuhause streng katholisch, mein Vater ist tot. Seit zwei Jahren. Er ist an Krebs gestorben.“
Renate rannen Tränen über das Gesicht.
„Ich kann es ihr nicht sagen. Ich will ihr nicht das Herz brechen.“
Renate nahm ein Taschentuch und schnäuzte hinein.
„Ich habe Sabine davon erzählt.“
„Wer ist Sabine?“
„Meine Freundin“, entgegnete Renate, „wir saßen seit der ersten Klasse zusammen in der gleichen Bank“, sagte Renate, „weißt du, am Anfang saßen alle Klassen der Grundschule in dem gleichen Raum. Hundert Leute. Gelernt hat man da nix.“
„Was sagt deine Freundin dazu?“
„Sabine hat mich schon 1975 vor Michael gewarnt“, resümierte Renate, „aber ich habe nicht hören wollen.“
Fürs Erste wies man ihr ein Zimmer zu und der Tag war für Renate gerettet.
Endlich Gründonnerstag!
Bereits beim Klingeln des Weckers schlug Ninas Herz in schnellem Takt. Der Tag der Wahrheit!
Sie wusste, dass es irgendwann soweit sein würde, und dass Christina es sich nicht mehr länger nehmen lassen würde, sie mit einem Jungen zu verkuppeln.
Reiß dich am Riemen, dachte Nina, du stehst in der Verantwortung. Christina weiß, was gut für dich ist.
Einerseits hatte sie es bei Christina mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu tun, das kaum Lebenserfahrung hatte und dessen Freund vielleicht gewalttätig war.
Andererseits könnte es auch sein, dass Nina selbst paranoid war, vermutete sie. Sie forderte sich auf, Christina eine Chance zu geben.
Sie war mit Herzklopfen aufgewacht, und nun stellte sie mit Bedauern fest, dass sich ihr Vater zur gleichen Zeit wie sie in der Küche aufhielt, weil er heute zur Frühschicht eingeteilt war. Ausgerechnet heute.
Nina nahm sich Milch aus dem Kühlschrank. Ein Brummen hinter ihr.
Michael nuschelte irgendwas.
„Hast du was gesagt, Papa?“
„Musst du nicht zur Schule?“
„Ich bin schon unterwegs.“
Sie war dabei, die Nutellabrote für Rebecca fertig zu machen.
„Kochst du uns etwas heute Mittag?“, fragte sie ihren Vater, in der Hoffnung, er würde sich einmal um ihr Wohl kümmern wollen.
„Ich bin auf Frühschicht. Vor fünf komme ich nicht heim.“
Er roch zwar nach Alkohol, aber das musste vom vorangegangenen Tag sein, heute hatte er wohl noch nichts getrunken.
„Rebecca braucht ein warmes Mittagessen“, sagte Nina, „bitte sorge dafür, dass sie etwas zu essen bekommt.“
In Erwartung ihres heutigen Termins ging sie davon aus, dass sie auswärts essen würde. Nina aß gern Döner, jedoch musste sie heute Abend Acht geben, da sie ein Date hatte. Nicht, dass sie noch nach Knoblauch roch! Basti, dachte sie, ich bin gespannt, was das für einer ist.
Michael war bereits in Jeans gekleidet, sein roter Bart sah heute weniger zerzaust als sonst aus.
Er wird doch wohl keinen lichten Moment haben?
„Becky wird zu Oma essen gehen“, sagte Ninas Vater.
Er nahm sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne, dann verschwand er wieder.
„Pass du auch gut auf dich auf“, seufzte Nina traurig beim Hinausgehen. Andere Eltern kümmern sich mehr um ihre Kinder, dachte sie.
Den ganzen Tag über konnte sie vor Aufregung angesichts der Ereignisse des Abends dem Unterricht kaum folgen.
Auf dem Nachhauseweg machte sie am Drogerieladen halt. Es konnte nicht schaden, für den Ernstfall gerüstet zu sein, dachte Nina.
Während die Kassiererin die Präservative über den Scanner zog, verzog diese Frau keine Miene. Doch Nina war ein bisschen mulmig zumute. Schließlich kaufte man nicht jeden Tag zum ersten Mal in seinem Leben Kondome.
Wenn man es genau nahm, war sie damit ein gutes Stück zu spät dran. Viel zu spät. Sie war überzeugt davon, die letzte in ihrer Klasse zu sein, die noch Jungfrau war. Obwohl sie das nicht sicher wusste. Doch lag in ihrem Kauf nicht ein Triumph? Erwarb sie mit diesen Medizinprodukten nicht eine neue Autonomie, eine Verfügungsgewalt über ihren Körper, die um vieles wirkungsvoller war als die seelischen Schäden, die ihr durch ihren peinlichen Vater und ihre feige Mutter angetan wurden?
Noch zwei Stunden bis zum Treffpunkt am Pub am Markt. Alles musste schnell gehen. Unter der Dusche nahm sie eine intensive Rasur im Intimbereich vor. Sie zog schicke lila Unterwäsche an, die zu schade war, um ungesehen zu bleiben, darüber schicke rote Klamotten. Parfüm, nicht zu dezent, nicht zu aufdringlich. Die Kondome hatte sie sicher in ihrer blauen kleinen Handtasche verwahrt.
Es konnte losgehen.
Im Pub am Markt war es um diese Zeit noch ruhig. Einzig und allein der Mann, den Christina einen Psycho genannt hatte, saß am Tresen. Britney Spears quiekte ihr “Baby one more time” aus den Boxen in der Ecke.
Christina und Tim saßen schon in der Kneipe. Christina sah überwältigend aus, Tim verströmte wie immer mit seinem muskelgestählten Körper eine Gewinner-Aura. Seine stahlblaue Augen fixierten sie und machten sie frösteln. Wie stets lächelte er.
Du mich auch, dachte Nina.
„Wie läuft der Plan nun ab?“ fragte Nina, nachdem sie sich zu den beiden gesetzt hatte.
„Um Punkt neun treffen wir uns vor der Diskothek. Basti wird da sein. Wir sollten bis halb zwölf dort bleiben, danach fahren wir nach Hause“, sagte Tim.
„So früh schon?“
Nina fühlte sich ein bisschen betrogen.
„Wir müssen den Plan relativ schnell über die Bühne bringen“, meinte Tim, „da ihr unter achtzehn seid, dürft ihr nur bis zwölf Uhr in der Diskothek sein. Das heißt, die lassen euch nach zehn Uhr nicht mehr rein.“
„Wie bist du denn drauf“, fragte Nina, „du bist doch sonst kein Paragrafenreiter!“
„Mein Vater macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich mit minderjährigen Mädchen die Diskothek besuche, obwohl es verboten ist und es danach auffliegt. Er ist Bürgermeister, er kann sich keinen Skandal leisten.“
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