Christian Urech
Misericordia City Blues
Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho Pansa
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Inhaltsverzeichnis
Titel Christian Urech Misericordia City Blues Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho Pansa Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreissig
Epilog
Impressum neobooks
Christian Urech
Misericordia City Blues
Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho
Pansa
Die Nacht ist dick und schwarz und samtig warm. Ich habe die Ränder der Stadt hinter mir gelassen, bin den
Sicherheitskräften der Gesundheitsbehörden noch einmal entkommen. Ich befinde mich jetzt auf einer Wiese oder in einem Park. Ab und zu lassen sich die Umrisse von Büschen und Sträuchern erahnen. Vielleicht fünfzig Meter vor mir duckt sich eine Hütte, ein Schuppen oder ein Stall in eine Senke hinein. Mein Hirn ist ganz leer: Ich fühle keine Angst mehr und keine Wut. Nur diese lähmende Müdigkeit, die mich an allen Gliedern in die Erde hineinzuziehen versucht. Ich muss ein wenig schlafen, eine Stunde nur. Da kommt mir die Hütte wie gerufen. Steht da wie ein Geschenk Gottes und hat die ganze Zeit auf mich gewartet, fünfzig Jahre oder hundert Jahre, seit sie erbaut worden ist. Wie tröstlich. Jemanden oder etwas zu haben, das auf einen wartet, ist bei aller Reisegewandtheit, Weltbürgerlichkeit, Ungebundenheit doch etwas Schönes. Es müssen ja nicht immer die knast-ähnlichen Spitäler, die zellenähnlichen Krankenzimmer der Gesundheitsbehörden von Misericordia sein. Der Gott dieser Wiese wird es nicht zulassen, dass mein Schlaf vom Licht extrapotenter behördlicher Taschenlampen brutal entzweigerissen wird. Der Schlaf sei ewig, das Erwachen gewiss. Die Nebelfetzen wachsen in meinen Kopf hinein.
Ich taste mich an den Wänden der Hütte entlang, um die Tür zu finden. Ich lasse mein Feuerzeug an schnappen. Das Innere der Hütte ist im Schein der flackernden Flamme leer bis auf ein undefinierbares Bündel, das in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt.
Eine halbvolle Flasche, gefüllt mit einer irgendwie gearteten Flüssigkeit, rotem Wein zum Beispiel, wie das
rubinrote Aufblinken im Flammenschein nahelegt. Ein Kerzenstumpf. Ein paar Zeitungsblätter, die verstreut
herumliegen. Das wird nun also mein Bett sein in dieser Nacht, mein Prokrustesbett. Ich setze die Flamme an den Kerzendocht. Mache mich daran, Bündel und Flasche einer Prüfung zu unterziehen, denn im sonst leeren Raum sind liegendes Bündel und stehende, mit einer rot blinkenden Flüssigkeit gefüllte Flasche natürlich eine
Sensation. Ich berühre das Bündel und rieche an der Flasche. Ich rieche am Bündel und berühre die Flasche.
Ich lege an beides, Bündel und Flasche, mein Ohr. Das Bündel ist warm und bewegt sich jetzt. Ausserdem beginnt es zu sprechen, das heisst zu murmeln und undeutlich zu fluchen. Ich erstarre vor Schreck.
«Was willst du hier?» höre ich fragen. «Warum lässt du mich nicht schlafen?»
«Verzeihung», antworte ich, «aber der Zufall, ich schwöre es, hat mich zu dieser Hütte geführt. Oder die Versuchung. Es schien mir nämlich so, als würde die Hütte mich erwarten. Wunschvorstellung auf der Flucht, was soll’s.» Ich seufze.
Im Kerzenschein zeigt sich jetzt das ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit grossen Augen
betrachtet.
«So, hinter dir sind sie also auch her», sagt er befriedigt.
«Ach, bin ich kaputt», antworte ich.
«Da, nimm einen Schluck, das wird dir gut tun.»
Ich trinke gehorsam. Die rubinrote Flüssigkeit schmeckt tatsächlich wie roter Wein. Billiger roter Wein.
«Die Welt», sagte der junge Mann, der dem Bündel entstiegen ist, «ist komisch. Komisch im Sinn von seltsam und komisch im Sinn von lustig oder zum Lachen reizend. Und wir hocken auf ihr wie die Flöhe im Fell eines Affen. Oder vielmehr einer Äffin. Die Flöhe können der Äffin nichts anhaben: höchstens sind sie manchmal ein wenig lästig. Allerdings geben sie auch Anlass zu dem köstlichen Vergnügen, sich vom Lieblingsaffen lausen und flohen zu lassen. Oder selber den Lieblingsaffen zu lausen und zu flohen, wobei man als Dessert dann erst noch die Opfer der Jagd genussvoll verspeisen kann. Des einen Leid ist des andern Freud. Wobei ich natürlich nicht behaupten will, dass Läuse und Flöhe besonders gut schmecken.»
«Und wir», will ich wissen, «sollen die Läuse und Flöhe im Fell der Äffin sein? Aber ich bitte dich, das ist doch
lächerlich! Haben wir nicht die Naturgewalten gebändigt, das Atom gespalten, sind wir nicht in die Weiten des Alls gereist? Waren wir nicht wahrhaft biblisch und haben uns die Pflanzen und Tiere untertan gemacht, auf dass sie sich in – amerikanisch – saftige Steaks oder – französisch – ein Baron d’agneau de lait oder – indonesisch – ein Ayam campur verwandelten? Das ist Kultur, Mann! Dass am Schluss dann alles wieder zu Scheisse wird, liegt in der Natur der Sache. Das Fäkalische ist nun mal die Kehrseite des Kulinarischen.»
«Das hast du schön gesagt. Wir bleiben aber trotzdem die Flöhe und die Läuse im Pelz der Äffin, das lässt sich mit aller Kultur nicht ändern. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben das Glück unserer Hormone. Und das Glück unserer Vergesslichkeit. Manchmal ist uns im Fell der Äffin auch ganz einfach warm. So richtig gemütlich. Dass uns dereinst der Lieblingsaffe lustvoll runterschmatzt – was solls? Das dient schliesslich auch dem Nahrungskreislauf.»
Es bleibt eine Weile still. Dann greifen wir beide gleichzeitig nach dem Hals der inzwischen nur noch zu einem
Viertel vollen Flasche. Der anerzogene Höflichkeitsreflex ist stärker als die Gier, beide ziehen wir die Hand zurück. Ein peinliches Spiel. Ich bemerke, wie ungewollt ein verlegenes Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Er lächelt gepeinigt zurück. Unsere Hände nähern sich in regelmässigem Rhythmus der Flasche, zucken vor ihrem Hals, als wäre der elektrisch geladen, zurück. Schliesslich geben wir es auf, die Flasche bleibt, noch einmal unbetrunken davongekommen, gewissermassen, stehen, wo sie ist.
Der Film zerfliesst, die Gegenwart ist kein Gefängnis mehr, dem man nicht entrinnen kann. Die Mauern der
Vergangenheit und der Zukunft öffnen sich, von meinem Bauch aus macht sich siedend heiss eine überwältigend
allgemeine, grundlose Trauer in mir breit, greift wie eine Welle über mich hinaus. Ich weiss, dass diese Hütte ein
Kastell ist; so muss es auf jeden Fall sein, wenn alles seine Ordnung haben soll. Dass ich Don Quichotte bin, obwohl ich keinen Bart und keine Rüstung und keine Bartschüssel als Helm trage, steht ausser Zweifel. Und jener dort ist Sancho Pansa, mein guter schlauer verfressener Sancho. Jeder weiss, wo er in dieser Geschichte hingehört. Das nenn ich Heimat, das nenn ich Glück.
Der Film beginnt wieder zu laufen, der andere Film, der mit den farbigen Bildern und mit Geräuschen, die jemand erzeugt, der hastig eine Flasche leer trinkt. Der junge, grossäugige Mann wirft die Flasche mit überraschender Kraft in eine dunkle Ecke der Hütte, die Tonspur gibt im passenden Moment ein ziemlich lautes, klirrendes Geräusch von sich. Der junge Mann streckt aggressiv seinen Zeigefinger in meine Richtung.
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