Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl. Der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte, aber auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln. Ausserdem
war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre
Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welchen sowohl Mensch als auch Toboser
nackt erscheinen würden. Und tatsächlich, da stand der würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem
gepflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf und Bambusgestrüpp, machte einige Freiübungen nach gut
müllerscher oder nach Art von Turnvater Jahn, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und
tauchte kopfvoran ins heilignüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr
seine Runden schwamm. Er zog heissen Kaffee einem kalten Bad bei weitem vor.
Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete.
Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in
Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn jeweils die heutige Jugend, die ja bekanntermassen ungezogen, frech und verdorben ist, das Bad in Beschlag nahm, wurde das ganz unmöglich.
So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler
wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.
Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe,
der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte in den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme.
Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte.
Was soll ich damit?
Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst?
Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens
eine gesunde Portion Machismo im Blut hatte.
Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den
ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!
Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm
indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen,
trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt an Verrücktheiten wieder so alles passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das
Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.
Don Quichotte war bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein grosser Anhänger von Science-Fiction-Filmen gewesen. Tag und Nacht hatte er vor dem Bildschirm verbracht und sich eine DVD nach der anderen ins Hirn
hineingestopft, bis die Bilder schier aus seinen Ohren, aus seiner Nase und seinem Mund quellen wollten und sein Hirn beinahe trockengelegt war. In seinen Träumen wimmelte es nur so von Raumschiffen, fremden Planeten, Zeitreisen und bizarren Wesen aus anderen Galaxien. Mit der Zeit hatte Don Quichotte sich selbst immer mehr davon entfernt, ein Erdling zu sein, und hatte sich nach und nach zum Abgesandten einer fremden galaktischen Macht gemausert, fast nebenbei berufen, die Erde, wohin es ihn nun mal verschlagen hatte, vor Kräften des Bösen zu retten und zu bewahren.
Diese Mission, so wurde es Don Quichotte irgendwann klar, war seine Lebensprüfung und Bewährungsprobe.
Manchmal entwickelte sich bei ihm geradezu ein Heimweh nach seiner Heimatwelt, die sich da irgendwo
weit draussen in der unendlichen Leere des Universums in anderen Sternennebeln um eine andere Sonne drehen
mochte, Millionen, ja Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Solche Dimensionen gaben Don Quichotte einen ganz eigenen Zugang zu den Problemen des Alltags und deren Bedeutung.
Sein Heimatplanet hatte nach Don Quichottes Vorstellung eine sehr kuriose Gestalt. Und seine Bewohner
waren nicht minder sonderbar. Der Planet, Toboso eins genannt, war nämlich ganz und gar mit Wasser bedeckt, oder vielmehr mit so etwas wie Wasser, nämlich einer Art flüssigen Gases: einem Zwischending aus Wasser und Luft, das wusste Don Quichotte, der kein Naturwissenschaftler war, nicht so genau. Auf jeden Fall schwammen oder flogen in diesem Zwischending die Bewohner von Toboso, von denen es zwei Sorten gab, aber nicht etwa eine weibliche oder männliche, sondern eine vollkommene und eine unvollkommene.
Die vollkommenen Exemplare waren kugelförmig und, wenn man so will, aus je zwei unvollkommenen Teilen entstanden (gemäss einer anderen Theorie waren die vollkommenen Teile zuerst gewesen und dann aus noch unerforschten Gründen in zwei unvollkommene Teile zerfallen, die nun von der Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zustand der Vollkommenheit geradezu besessen waren). Die Kugeln befanden sich in einem Zustand frag- und wunschlosen Glücks, waren alters- und zeitlos, mussten demnach weder Nahrung
aufnehmen noch Exkremente ausscheiden, kannten weder Müdigkeit noch Schlaf, unterlagen nicht der Liebe, dem Hass und der Leidenschaft, sondern waren einfach da und schwammen oder flogen in gänzlicher Harmonie im Zwischending herum: erleuchtete Kugeln.
Die unvollkommenen Exemplare waren noch weit von solch paradiesischen Zuständen entfernt. Sie mussten sich zuerst in allen möglichen Wandlungen bewähren, manchmal auf der Erde, dann wieder auf einer Welt in einer ganz anderen Ecke des Universums die verschiedensten Abenteuer bestehen und stets gegen die Mächte des Bösen kämpfen, damit das Gleichgewicht im Grossen und Ganzen erhalten blieb.
Dass Toboser, um diese wahrhaft titanische Aufgabe zu bewältigen, nicht nur äusserst mutig und schlau, sondern
auch flexibel, anpassungsfähig, kreativ, analytisch, durchsetzungsfähig und einfühlsam sein mussten, versteht sich von selbst.
Dies alles und noch viel mehr hatte Don Quichotte während der langen Tage in der Anstalt dem Sancho
Pansa auseinandergesetzt – natürlich mit der Sache angemessenen Worten und doch so, dass Sancho wenigstens
einigermassen folgen konnte – keine geringe intellektuelle Herausforderung, wie Don Quichotte fand.
Auf der Erde sah unser tobosischer Ritter das Böse in verschiedener Gestalt, aber unter Wahrung einer inneren
Einheit, sein Werk vollbringen. Die Feinde stammten ursprünglich ebenfalls aus anderen Welten, nämlich von
einem Planeten namens Cerberus eins. Don Quichotte war davon überzeugt (allerdings, ohne deshalb in seiner
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