Verängstigt schlägst du vor, nur noch wahrheitsgemäße Werbung zu machen, die auch den Kunden des Kunden nutzt. Entgeistert schaut der Chef auf dich. Dann brüllt er los: „Wie kann man nur so blöd sein! Abgesehen von Preissenkungen gibt es keine solche Werbung! Wer die Wahrheit will, der braucht uns nicht!“
Mäuse und Tiger
Und den braucht vor allem der Chef nicht. Es ist dir aber sehr wichtig, gebraucht zu werden. Finanziell wird das sogar von Tag zu Tag wichtiger, weil du wieder mal in der Probezeit gescheitert bist. Warum nur musstest du Esel über die Wahrheit herumschwätzen? So etwas überlässt man den Philosophen. Nicht einmal die kennen sich wirklich mit diesem komplexen Gebilde aus. Manchmal gibt es einen ganzen Sack voller Wahrheiten. Holst du eine heraus, dann schillert sie in vielen Facetten. Wahr ist, dass du dringend einen neuen Job benötigst, wahr ist, dass du einem Dienstherrn keine wahren Erfolge vorweisen kannst, wahr ist, dass du deshalb lügen musst.
Also prahlst du mit deinen neu gewonnenen Marketing-Erfahrungen im Finanzsektor. Fürs Lügen haben die dort zwar schon genug Leute, immerhin glaubt ein Teamleiter vom „Glücksbringer“-Konkurrenten „Pechmeider“, es mal mit dir versuchen zu können. Der nimmt erst mal jeden, den er nicht von vornherein als hoffnungslos dämlich einstuft. Von zehn Angeworbenen, erzählt er, bleibe am Ende vielleicht einer übrig. So gänzlich lässt sich das Pech offenbar nicht vermeiden.
Zunächst einmal muss der „Pechmeider“ herausfinden, ob du eine graue Maus bist. Graue Mäuse eignen sich nämlich nicht für einen Strukturvertrieb. Sie gehen mit der Wahrheit nicht ausreichend innovativ um und bleiben im analotiven stecken. Deshalb bringen sie höchstens einen Versicherungs- oder Geldanlagevertrag pro Woche zustande. Ein innovativer Tiger schafft mindestens zehn. Weil von allen Provisionen Prozente an Teamleiter, Oberteamleiter, Oberoberteamleiter und Fürst Pechmeider abgegeben werden müssen, stellt sich für diese anspruchsvollen Führungskräfte natürlich die Frage: Was ist eine Maus gegen einen Tiger?
Zur Prüfung der animalischen Gen-Lage hat Fürst Pechmeider rund hundert neu Ange-worbene in den Saal eines noblen Hotels zum Vortrag eingeladen. Vornehm ist wichtig, die Leute sollen Geld riechen und Gier entwickeln. Gier ist extrem bedeutsam, sonst wird es nämlich nichts mit dem Pech meiden. Der Fürst im dunklen Cerruti-Smoking, goldener, mit Rosen-Diamanten verzierten Krawattennadel und purpur-schimmerndem Ohrring geht durch die Reihen und fragt schüchterne kleine Menschlein, was sie denn so für Autos fahren.
Du liebe Güte, was kommt da für ein Mist zusammen!: ein 20 Jahre alter verrosteter Ford Fiesta, ein zerbeulter Fiat Panda, ein schon von der Großmutter zerschrammter Opel Corsa, ein Rover, für den der TÜV bestochen wurde, ein Dacia der hässlichsten und billigsten Sorte mit Fensterkurbeln, ein Citroȅn mit mahlenden Radlagern. Aber es gibt noch Schlimmeres. Jemand ist sogar mit einem alten Ost-Moped, einer stinkenden Schwalbe, da. Leute, so geht das nicht! Das kann doch nicht euer Ernst sein! Wollt ihr wirklich so weiterleben?
Steht endlich auf und kämpft! Setzt euch große Ziele. Nur wer sich große Ziele setzt und hart dafür arbeitet, der wird eines Tages Porsche fahren. Es gibt nur zwei Arten von Men-schen: Die, die Porsche fahren und die, die von einem Porsche überfahren werden. Zu wel-cher Kategorie wollt ihr gehören? Räuspern im Saal. Die meisten haben sich schon entschie-den. Auch du würdest deinen Platz lieber im als unterm Auto finden. Der Oberguru vom „Pechmeider“ hat sogar einen Maserati, mit dem er Leute überfährt.
Wer will den Porsche, Hand hoch!, brüllt der Fürst. Zaghaft melden sich die ersten Menschlein, dann werden es immer mehr. Nur der Mann mit der Schwalbe und ein paar andere Verlierer glauben, dass sie das nicht schaffen. Sie müssen den Saal als ewige Mäuse verlassen. Für den Rest beginnt nun die Metamorphose von der Maus zum Tiger. Der Fürst lässt jeden zum Beweis der Ernsthaftigkeit des Willens einen Tiger nachahmen. Rrrrr, grrrr, rrrrch, grrrch, hallt es aus den Reihen.
Endlich bist du, was du schon immer sein wolltest: ein Tiger. Und Tiger sind gefährlich. Präge dir gut ein: Du bis jetzt gefährlich, gemeingefährlich.
Pyramide fällt um
Als ehemalige graue Maus musst du den Umgang mit einem Tigergebiss freilich erst noch lernen. Dazu wirst du geschult. Sehr zielstrebig, nicht so auf unnütze Allgemeinbildung ver-sessen, wie es die Pauker in der Schule für richtig halten. Als Erstes ist das Kapitel Gefühl dran. Dem Fürsten Pechmeider tun die Menschen in diesem Land sehr leid. Nicht nur die Armen, denen ist ohnehin nicht zu helfen. Es ist die breite Schicht zwischen arm und reich, die im Alter ebenfalls leicht in Not geraten kann, wenn sie nicht rechtzeitig vorsorgt. „Können Sie von der staatlichen Rente Leben?!“, brüllt der Fürst in den Raum und tippt auf eine junge Frau. Erschrocken fährt die zusammen und stammelt: „Ich, ich, ich weiß nicht.“ Der Oberguru wird noch lauter: „Falsche Antwort!“, schmettert er. Die Frau besinnt sich und wimmert: „Wohl eher nicht.“ Der Fürst klatscht in die Hände: „Richtige Antwort!“
Wenn etwas zum Tiger-Handwerk gehört, dann das Wissen, dass die armen Schweine mit ihrer normalen Rente nicht froh werden. Der Lehrmeister wirft mit dem Projektor ein Bild auf die Leinwand. Es zeigt eine Pyramide. Toll, wie die alten Ägypter das hingekriegt haben. Dann dreht er das Bild auf den Kopf. So sehen heute unsere Pyramiden aus. Die fallen um. Peng! Warum? Keine Verantwortung mehr in der Gesellschaft. Die Leute bekommen zu wenig Nachwuchs. Die vögeln wie die Wilden, aber sie vögeln nicht für die Pyramide: der fehlen die Kinder. Ein Desaster ist das für alle und ein Desaster für die im Umlageverfahren zu erwirtschaftenden staatlichen Renten. Früher hat es mehr junge als alte Menschen gegeben, jetzt kehrt sich das um, künftig können die Jungen die Renten für die Alten nicht mehr erwirtschaften. Und die leben auch noch viel länger.
Aber wie? Wollen wir das leben oder vegetieren nennen - mit so wenig Geld? Reisen? Größere Anschaffungen? Ausgehen? Mal gut im Restaurant speisen? Vergiss es. Jede Hose musst du beim Sozialamt beantragen. Und dort sind die Warteräume knüppeldickevoll. Jeder, der darüber nachdenkt, hat Angst vor der Zukunft. „Und Ihre Aufgabe ist es, die Kunden zu diesem Denken zu bringen! Die sollen ruhig Angst fühlen. Das ist der Zeitpunkt, ihnen eine Lösung anzubieten. Mit unseren Finanzprodukten können die Leute das Pech der Altersarmut meiden. Machen Sie deren Nachdenken zu Ihrer Provision!“
Du erinnerst dich, was dein Chef bei der Agentur über die Pyramide gesagt hat? Mund halten, sonst bis du gleich wieder draußen. Einen schöneren Job kannst du dir gar nicht vorstellen: Wenn andere denken, bekommst du Geld. Das müsste klappen. Die Leute können das mit dem Denken sowieso nicht lassen. Die halten das für was Gutes und denken unent-wegt. Du brauchst das Denken nur in die richtigen Bahnen zu leiten.
Nur einer im Saal denkt nicht in den richtigen Bahnen. Das muss so ein abgehalfterter Statistiker oder Galerie-Direktor sein. Der Mann will völlig sinnlos mit seiner Bildung prah-len und erklärt, das mit der Pyramide könne so nicht stimmen. Adolph von Menzel habe 1875 sein berühmtes Gemäde „Das Eisenwalzwerk“ fertiggestellt. Darauf habe er 50 Arbeiter ge-zählt. Heute würden fünf Arbeiter wahrscheinlich das tausendfache an Werten schaffen. Wichtiger als eine Menschenpyramide sei für die Rente folglich die Produktivitätspyramide.
Der Fürst ist außer sich. Klugscheißer kann er nicht gebrauchen. Solchen Personen ent-gleitet das Denken wer weiß wohin. Wie soll jemand etwas verkaufen, wenn er sein Denken nicht im Griff hat? „Sie werden nie ein Tiger!“, brüllt der Fürst und legt dem Mann nahe, den Raum zu verlassen. Trotzig wie der ist, befolgt er den Rat, und der Oberguru beruhigt sich wieder. Er philosophiert nun darüber, wie wichtig es ist, keine Zweifel zu haben. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Verkäufer als Zweifel. Zweifel übertragen sich auf den Kunden. Er fängt dann an, falsch zu denken. Wenn Sie es so weit kommen lassen, kriegen Sie nie eine Unterschrift. Dann werden Sie nie als Tiger Porsche fahren, sondern ewig als graue Maus auf dem Moped sitzen.
Читать дальше