„Ha“, lachte Nubo, streichelte Gabos Kopf und lief in die Hütte zu seiner Frau.
In der Ecke des Wohnraums standen viele Körbe, in denen Vorräte aufbewahrt wurden. Enna legte Witteln in ein Körbchen, um es bei Tisch zu verwenden.
Die Früchte hatte Enna mit Echnas Mama Molia am Vormittag gepflückt. Meistens waren es die Mütter mit ihren Kindern, die mit großen Körben zum Berg wanderten, um die Witteln zu ernten.
„Gleich essen wir“, verkündete Enna Nubo, die ihn anlächelte. „Jetzt warten wir nur noch auf Talin.“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, hörte man von Weitem ein Kichern.
„Das werden die beiden sein“, vermutete Nubo, und er hatte recht.
Seinen Kopf aus der Hütte streckend sah er Echna und Talin, wie sie vor Echnas Haus standen, um sich für später zu verabreden. Er winkte ihnen zu, die zwei Mädchen grüßten zurück.
„Die warten schon mit dem Essen, bis gleich.“
„Wir sehen uns später“, erwiderte Echna.
Im ganzen Dorf saßen die Familien zu dieser Zeit an ihren Tischen, um zu speisen.
Dann geschah Seltsames. Vor Einbruch der Nacht veränderten sich die Bewohner. Sie waren sich dessen nicht bewusst. Die Leute schrien sich an und stritten, es wurde immer lauter.
Die sonst so friedfertigen Matori benahmen sich wie Wilde. Sie gingen aufeinander los, beschimpften und schubsten sich gegenseitig. Sie waren nicht mehr sie selbst.
Wie verrückt liefen sie umher, Echna und Talin verhielten sich ebenso. Es schien, als ob sie versuchten, Aggressionen loszuwerden.
Nach einer Weile ließen sie von einander ab und fingen an, sich zu Gruppen zusammen zu schließen. Einige davon verließen das Dorf in Richtung der Gegend, wo die Witteln wuchsen. Sie liefen weiter um den Berg herum und waren an einem See.
Mittlerweile hatten sich alle zu einer einzigen Gruppe vereint. Inzwischen waren sie nicht mehr fähig zu sprechen, stammelten, brabbelten und gestikulierten, um sich zu verständigen.
Einer hatte auf dem Weg hierher einen ein Meter langen Ast vom Boden aufgehoben, mit dem er auf die gegenüberliegende Seite des Sees zeigte, es war Nubo. Die anderen begriffen und gemeinsam sprangen sie ins Wasser, um den See zu durchqueren. Sie erreichten eine Stelle, da war es nicht mehr möglich zu laufen. Sagan, der Mann von Molia, hatte nie schwimmen gelernt. Er bemerkte, dass er nicht fähig war, die andere Seite zu erreichen, und erzeugte ein weinerliches Geräusch.
Nubo zeigte mit dem Stock auf die Stelle, von der sie gekommen waren, und Sagan watete von zwei Dorfbewohnern begleitet wieder zurück ans Ufer.
Die drei standen eine Weile da und beobachteten den Rest der Gruppe. Sie gaben Laute von sich, protestierten, nicht dabei zu sein. Doch Nubo und seine Gefolgschaft kümmerten sich nicht weiter darum, weshalb die drei Männer zum Dorf zurückkehrten.
Nach wenigen Minuten hatte die Gruppe das andere Ufer erreicht. Zielstrebig liefen sie auf ein Waldstück zu, das sie zügig durchquerten. Offenbar waren sie am Ziel, denn sie wurden immer aufgeregter und lauter. Vor ihnen lag das Dorf der Dancken.
Kinder liefen unbekümmert umher und spielten, die Erwachsenen saßen vor ihren Hütten. Ohne Vorwarnung wurden sie durch Laute wie von Tieren aufgeschreckt.
Eine Gruppe von etwa dreißig Wilden kam drohend, schreiend und gestikulierend auf sie zu. Sie schienen bereit zu sein, Gewalt anzuwenden. Die Kinder liefen zu ihren Eltern, von denen sie sofort angewiesen wurden, sich in den Hütten zu verstecken.
„Da sind sie wieder, diese Wilden“, rief einer.
Die Erwachsenen griffen nach Stühlen, Werkzeugen oder anderen Gegenständen, mit denen sie sich verteidigten, und stellten sich den Matori.
Nubo und seine Leute verteilten sich im Dorf, jeder von Ihnen bedrohte willkürlich die Dancken, die zurückwichen.
Mit hochgehaltenen Armen, Schreien und Zähne fletschen drängten die Matori die Dorfbewohner in alle Richtungen, ohne sie zu berühren oder mit ihnen zu kämpfen.
Die Wilden drohten nur, doch das war für die Dancken schon furchterregend genug, da sie sonst nie Kontakte mit Fremden hatten und friedlich lebten. Nach wenigen Minuten war der ganze Spuk vorbei.
Ohne ein Zeichen von Nubo zogen sich die Matori aus dem Dorf zurück und begaben sich wieder auf den Heimweg.
Der Schrecken war den Dancken anzusehen, sie wirkten wie versteinert. Mit blassen Gesichtern und zittrigen Knien standen sie da und langsam, mit gesenkten Köpfen, liefen sie zurück zu ihren Häusern und Kindern.
Ein solches Verhalten war ihnen nicht bekannt, deshalb meinten sie, Wilden begegnet zu sein. Es war nicht das erste Mal, dass sie derart von diesen Menschen bedroht wurden. Sie waren ratlos, weshalb sich die Fremden so benahmen.
Vor Sonnenuntergang waren alle Matori zurück in ihrem Dorf. Allmählich kehrte hier wieder Ruhe ein. Niemand erinnerte sich an die letzten Stunden, so legten sich die Dorfbewohner hin und schliefen bald ein.
Die Familie Grund

In einem kleinen Reihenhaus am Rande der Stadt lebte Helena Grund mit ihren Kindern Jens und Marlene. Sie war halbtags in einem Frisiersalon beschäftigt und unzufrieden mit ihrem Job. Ihr Chef war ein tyrannischer Arbeitgeber, der sich verständnislos zeigte, wenn Helena zu Hause blieb, weil ihr Nachwuchs erkrankt war. Wegen des Geldes sah sie sich auf die Arbeit angewiesen und gezwungen, sich mit ihrem Chef abzufinden.
Sie war eine Mutter, die alles im Griff hatte und wie ihr Freund fand, apart. Die beiden waren seit zwei Jahren ein Paar.
Klaus hatte eine eigene Wohnung nicht weit von der Familie Grund entfernt. Wann immer es möglich war, verbrachte er seine Freizeit bei Helena und den Kindern.
Klaus war Möbeldesigner, der am liebsten musizierte. Vor einigen Monaten hatte er mit der Band, in der er Bass spielte, seinen ersten öffentlichen Auftritt, bei dem Helena, Jens und Marlene anwesend waren.
Klaus freute es, wenn die drei mit zu den Proben kamen, denn die anderen Bandmitglieder hatten ebenfalls Familie, die sie oft mitbrachten. Es wurde nicht nur musiziert, sondern Kaffee getrunken, Kuchen gegessen, erzählt und gelacht.
Klaus beschäftigte sich und sprach gerne mit den Kleinen, da er keine eigenen Kinder hatte. Bevor er Helena kannte, war es ihm fremd, sich vorzustellen, selber Nachkommen zu haben.
Jens war dreizehn und Marlene elf Jahre alt. Beide waren aus dem Gröbsten raus und besuchten dieselbe Schule.
Klaus war beeindruckt davon, dass die Sprösslinge einerseits manierlich erzogen und höflich, andererseits keine Duckmäuser waren, die sich alles gefallen ließen. Wenn ihnen etwas nicht passte, sagten sie das. Oft diskutierten sie mit ihrer Mutter, weil sie empfanden, ungerecht behandelt worden zu sein, oder wenn ihnen etwas verboten wurde.
Helena ließ ihren Kindern Freiraum, manchmal hielt sie es für erforderlich, streng zu sein und durchzugreifen, sofern ihre Sprösslinge es zu weit trieben. Das geschah vor allem, wenn sie miteinander spielten, was oft damit endete, dass die Kleine weinte, weil Jens seiner Schwester wehgetan hatte. Dann sorgte Helena wieder für Ruhe und Ordnung.
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