Seitdem ist ein halbes Jahrhundert mit Lippenbekenntnissen und mit schöner Regelmäßigkeit nicht umgesetzten Absichtserklärungen ins Land gegangen. Ich befürchte, dass auch Greta Thunberg und ihre „Fridays for Future“ ähnlich erbärmlich wie Barack Obamas hochtrabendes Regierungsprogramm mit ihrer Rhetorik und ihren Illusionen im Nirwana der guten Absichten verpuffen werden, wie ehrlich sie von den jeweiligen Autoren ursprünglich auch immer gemeint gewesen sein mögen.
Das Cover von „Pollution“ geht auf eine Kunstinstallation Gianni Sassis von Al.Sa zurück, bei der ein Platz in Bologna mit Keramikfliesen gepflastert wird, die fotorealistisch steinige Erdschollen mit vereinzelten Grasbüscheln darstellen. Hinzugefügt wird für das Cover eine aufgeschnittene Zitrone, die von einer Eisenschraube durchbohrt wird. (Sizilianische) unberührte Natur versus brutale Mechanik! Die sieben Lieder (Akte) des Albums, das den protzigen Untertitel „Klangfolge in sieben Akten gewidmet dem Internationalen Zentrum der Magnetforschung“ trägt und in einer Bemerkung des Inlets auf ein frei erfundenes und misslungenes Experiment hinweist, bei dem alle italienischen Autos mittels eines magnetischen Stroboskops blockiert werden, erzählen die Geschichte des Weltendes am „31. Dezember 1999 um 9 Uhr“ (wie der kurze zweite Titel heißt, der nur aus zwei Explosionen besteht) und die Flucht der Menschheit in eine submarine Existenz (fünfter Titel „Plankton“). Einige typische Konstanten der Kreativität Battiatos sind schon hier im Album „Pollution“ vorhanden: eigenwillige Buchstabendreher und Wortverbindungen (hier der dritte Albumtitel „Areknames“, welcher, rückwärts gelesen, sich als „Se mancherà“ („Nicht da“) entpuppt; ähnlich bei „Iloponitnasoc“, in Wirklichkeit „Costantinopoli“ aus dem nie veröffentlichten Album „Mespotamia“ 10); die rhetorische Figur Oxymoron (Gegensatzpaar) im ersten Albumtitel „Il silenzio del rumore“ („Die Stille des Lärms“); Interferenzen aus der klassischen E-Musik mit Geschichten aus dem „Wienerwald“ von Johann Strauss (Sohn) oder Bedrich Smetanas „Die Moldau“. Erwähnenswert ist sicher auch der im typisch provokanten Stil der politisierten Siebziger formulierte Frage des letzten Albumtitels „Ti sei mai chiesto che funzione hai“? („Hast du dich je gefragt, welche Funktion du hast“?), die mit einem Weinkrampf beantwortet wird und so von Battiato kommentiert worden ist:
Am Ende von ‚Pollution‘, du erinnerst dich daran, ist ein langer Weinkrampf zu hören. Das war eine Prophetie zum Ende der Menschheit, zu den schweren Katastrophen, die uns bevorstehen . 11
Im Lied „Plancton“ beschreibt Battiato die Mutation des Menschen in Meerlebewesen:
Ich lebe seit zweihundert Jahren im Meer
Ich habe gelernt, wie man unter Wasser atmet
Meine Hände werden Schuppen
Unter dem Meer ändere ich meine Form
Und mein Körper wird den Fischen immer ähnlicher
Meine Haare werden Algen
Möglicherweise wurde diese Zukunftsvision Battiatos durch die esoterische Erzählung „The Shadow over Innsmouth“ beeinflusst, die der amerikanische Schriftsteller Howard Philips Lovecraft 1936 veröffentlichte. In diesem Text wird eine erfundene hybride Rasse (halb Mensch und halb Fisch/Frosch) beschrieben. Lovecraft wird heute unter die wichtigsten Autoren phantastischer Horrorliteratur gerechnet, erfuhr aber auch viel Ablehnung wegen seiner rassistischen Positionen.
Die acht Alben der experimentellen Phase Battiatos in den Siebzigern zu klassifizieren, ist nicht immer leicht. In der Literatur über ihn werden diese Alben oft nur beiläufig erwähnt und über einen Kamm geschert. Wenn überhaupt, verwendet man die auch hier zugrunde gelegte Unterscheidung der fünf Alben mit Bla.Bla und drei Alben mit Ricordi. Doch auch Battiato wohl geneigte Fans hören kaum Unterschiede beim Vergleich zwischen „Mad.lle Le Gladiator“ (1975) und „L’egitto prima delle sabbie“ (1978) heraus. Auch das gleich zu besprechende „Sulle Corde di Aries“ (1973) klingt bei einem schnellen Anhören sehr ähnlich. Letztendlich rühren diese Unsicherheiten aus den nur mühsam definierbaren Unterschieden zwischen progressivem Rock und klassischer Avantgarde in den Siebzigern her, die einen große gemeinsame Schnittmenge haben. Einige Fakten in Battiatos musikalischer Entwicklung könnten zum besseren Verständnis beitragen. Die ersten beiden Alben bilden sicherlich eine Einheit für sich. 1973 gerät Battiato in eine Krise, kündigt die Zusammenarbeit mit „Frankenstein“ (Gianni Sassi und Sergio Albergoni) auf und nähert sich der Musik Karlheinz Stockhausens an.
Für eine bestimmte Zeit sind wir Freunde gewesen. Sagen wir von 1972 bis 1975, drei Jahre, während derer wir uns getroffen haben. Ich war auch Gast bei ihm in Deutschland, in Kürten, in der Nähe Kölns . 12
Neben der Annäherung an die Minimalmusik und klassische Avantgarde, verstärkt Battiato auch seine Suche für ihn überzeugender spiritueller Antworten. Es ist nicht ganz klar, wann genau er mit der esoterischen Welt Gurdjieffs (1866-1949) in Berührung kommt. In einem (frühen) Interview mit dem Privatsender „Rete Quattro“ spricht er vom Jahr 1975 13. Andere Quellen geben das Jahr 1977 an.
Den wirklichen Wechsel in meinem Leben, den größten, verdanke ich der Entdeckung Gurdjieffs. Ganz allein, als wilder Autodidakt, hatte ich das kenngelernt, was im Westen transzendentale Meditation genannt wird. Ich hatte schon einen inneren Weg zurückgelegt, aber bei der Weltanschauung Gurdjieffs sah ich ein System realisiert, das ich schon vorausgeahnt und kennengelernt hatte. In einem einzigen Moment erkannte ich alles. Es gibt viele Wege, es gibt die heilige Teresa und den heiligen Franziskus; dem System von Gurdjieff fühlte ich mich ganz nah. Eine Art von Sufismus, der im Westen praktiziert wird, innerhalb einer Konsumgesellschaft . 14
Battiato lernt Gurdjieff nicht direkt, sondern über das Buch eines seiner Schüler kennen: P.S. Ouspenskys „Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Fragmente einer unbekannten Lehre“ (1949).
Der erste, der mir davon sprach, war Roberto Calasso, der mich auf „Begegnungen mit ungewöhnlichen Menschen“ hinwies und mir etwas von Gurdjieff erzählte. Ich las das Buch, war aber nicht wirklich beeindruckt, und habe es dann Ballista weitergeschenkt. Er wurde von dem Buch erschüttert und hielt nicht mehr an. Er suchte andere Bücher und schenkte mir „Fragmente einer unbekannten Lehre“ von Ouspensky. Für mich war es wie eine Erleuchtung . 15
Das Album „Clic“ (1974) zitiert jedenfalls wortwörtlich einige Konzepte der Philosophie Gurdjieffs und ist Karlheinz Stockhausen gewidmet, aber auch schon „Sulle Corde di Aries“ (1973) könnte mit seinem Abschlusssong „Da Oriente a Occidente“ und überhaupt durch seinen meditativen, introspektiven Charakter, den Einsatz vieler akustischer Instrumente, das ockerfarbene, esoterische Cover auf eine erste Beschäftigung mit Gurdjieff (oder zumindest mit esoterischer Philosophie) hinweisen. Irgendetwas Wichtiges und Richtungsweisendes war jedenfalls 1973 passiert. Die schrillen, grellen, provokanten Töne von „Fetus“ und „Pollution“ hatten ruhiger, kontemplativer Musik Platz gemacht, die bei „Sulle Corde di Aries“ (1973) auch ziemlich eindeutig an anamnetische Praktiken der psychoanalytischen Diagnose erinnert (am auffälligsten im Albumtitel „Sequenze e Frequenze“). Ein weiteres Kriterium, das für die klassische Aufteilung in Bla.Bla und Ricordi spräche, betrifft das Vorhandensein/Fehlen von Texten, die auf Grundstrukturen von Liedern hindeuten. Bis auf „Mad.lle Le Gladiator“ (1975) haben die von Bla.Bla veröffentlichten Alben solche Texte und Liedstrukturen. Sie fehlen (bis auf das kurze französische „Hiver“ in „Jukebox“) bei den drei Ricordi-Platten. Aber das vielleicht entscheidendste Argument bezieht sich auf die den Alben zugrundeliegende Liedstruktur. Bis „Mad.lle Le Gladiator“ (1975) improvisiert Battiato, wie das im progressiven Rock üblich ist. Von „Battiato“ (1977) bis „L’egitto prima delle sabbie“ (1979) beruhen die Stücke auf schriftlichen Kompositionen, die in der klassischen Musik zum Einsatz kommen, entsprechende Kenntnisse voraussetzen und deren Partituren von beliebigen Orchestern nachgespielt werden können.
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