Was (zumindest den italienischen Musikkritikern) weniger bekannt ist der Einfluss der deutschen elektronischen Musik auf die damalige italienische Musikszene. In einigen Städten des damaligen Westdeutschlands (Berlin, München, Düsseldorf) entsteht Ende der sechziger Jahre vor allem im Umfeld des Berliner „Electronic Beat Studio“ und des Lokals „Zodiak“ mittels blubbernder Synthesizer und Musikern mit langen Matten an den Reglern ein völlig neuer Weltraumsound, der abstrakte Klanglandschaften schafft, aber auch für esoterische Ausdeutungen offen bleibt. Die zahmen Engländer und polternden Amis sind erstmal baff und nennen diese neue Rockmusik aus Westdeutschland verächtlich „Krautrock“, was aber nichts daran ändert, dass diese elektronische Rockmusik der einzige bemerkenswerte Beitrag Deutschlands zur kurzen Rockmusikgeschichte geblieben ist und der „Krautrock“ sein Scherflein zu einer Emanzipation von der verschimmelten Nachkriegszeit und ihrer missglückten Entnazifizierung beigetragen hat. In einer postmodernen neuen Sphärenmusik der sich bewegenden Himmelskörper, die ursprünglich von Pythagoras entwickelt worden war, ertönen und schwingen die Harmonien des Universums, aber wabern auch Timothy Learys drogenverhangene Heilsschwärmereien. Der psychedelische Westcoast-Rock (Grateful Dead, Jefferson Airplane, Quicksilver Messenger Service), der englische Progressive Rock (Pink Floyd), aber vor allem natürlich die amerikanische minimalistische Musik (Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich, John Cage, Philip Glass und andere mehr) leisten mit ihrem musikalischen Konzept der repetitiven Strukturen, ausufernden Jam-Sessions und (bei den Studioaufnahmen) eine ganze Langspielplattenseite dauernden Musikstücken Vorarbeit. Bei Alben und Musiktiteln mit den Namen „Electronic Meditation“ (Tangerine Dream), „Meditation“ (Eberhard Schoener), „Traummaschine“ (Ash Ra Temple) oder „Psychedelic Underground“ (Amon Düül) schwant einem Transzendentales. Überhaupt entsteht eine neue Vermischung aus Avantgarde-Rock und Avantgarde-Klassik, die bei Franco Battiato in seiner gesamten Karriere ein identitätsstiftendes Wesensmerkmal darstellt. Und natürlich beschränkt sich diese neue Musik nicht aufs kleine Westdeutschland und Italien. John Cale von Velvet Underground wird auch zu den Minimalisten gerechnet. Eberhard Schoener tritt mit seinem Moog-Synthesizer bei der Weltausstellung im japanischen Osaka (1970) im Raumklangprojekt „Gärten der Musik“ zusammen mit Karlheinz Stockhausen auf. Thomas Kesslers Gruppe Neue Musik Berlin versteht sich als klassische Avantgarde, hat Kontakt zu zahlreichen wichtigen amerikanischen Minimalisten, die sich mit Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in West-Berlin aufhalten, schafft aber auch den Kontakt zu den jungen Untergrund-Rockmusikern wie Edgar Froese und Klaus Schulze (Tangerine Dream/Ash Ra Temple) und Christopher Franke (Agitation Free). Hans-Joachim Roedelius und Dieter Möbius spielen bei Kluster/Cluster und Harmonia und nehmen mit Brian Eno zwei Platten auf. Eno hält Harmonia immerhin für nichts weniger als die wichtigste Rockband der Welt Mitte der siebziger Jahre. Auch die gerade erwähnten Florian Fricke (Popol Vuh) und Eberhard Schoener, Hauptvertreter der elektronischen Musik in München, kommen von der klassischen Musik. Es wird nicht nur Zufall gewesen sein, dass Battiato im Jahre 2000 für das Festival Il violino e la selce in San Benedetto del Tronto auch (den leider im Jahr danach früh verstorbenen) Florian Fricke und seine Popol Vuh einlädt.
Die vier ersten Alben Battiatos präsentieren in Teilen noch traditionelle Melodiefolgen und Liedtexte, was die Rezeption beim Hören erleichtert. Die ersten beiden Alben sind sogar als Konzeptalben entworfen und strukturiert. Grundidee von „Fetus“, mit seinem skandalträchtigen Fötus auf dem Cover, der in einem Anatomiemuseum fotografiert wurde und mit dem für die damaligen wilden Protestjahre typischen sardonischem Sarkasmus als emsiger Mitarbeiter Valerio Puntointerrogativo (sprich Valerio Fragezeichen) im beigelegten Inlet benannt, ist die Entwicklung des menschlichen Lebens im Mutterleib, das sofort eine metaphysische Dimension erhält und mit der Entstehung des Universums in Verbindung gebracht wird. Schon bei seiner ersten LP spürt man das spirituelle Anliegen Battiatos, der staunend vor dem Geheimnis des heranreifenden Lebens steht, das nicht nur ein Einzelschicksal ist, sondern die milliardenalte Erdgeschichte und die Evolutionsbiologie im Zeitraffer abbildet. Hier sind sicherlich schon die Ansätze des Reinkarnationsglaubens Battiatos spürbar, der vor allem östliche Religionen wie den Hinduismus und Buddhismus charakterisiert und (in Battiatos Überzeugung) nicht nur Flora und Fauna umfasst, sondern auch die gesamte materielle anorganische Basis miteinschließt.
Mit Fetus habe ich versucht, einem Problem eine menschliche Dimension zu geben, oder besser, einer Situation, die im menschlichen Leben ständig vorhanden ist, dass man realisiert, wie die Unendlichkeit über uns und um uns herum uns betrifft und durchdringt . 8
Das Album „Fetus“ hat insgesamt 8 Lieder, von denen wohl der Titelsong „Fetus“, „Fenomenologia“ und „Meccanica“ am ehesten noch die Zeiten überlebt haben, legt man etwa die Super Deluxe Edition von „Anthology – Le Nostre Anime“ aus dem Jahre 2015 oder „Universi Paralleli“ (2018) zu Grunde.
Der Titelsong „Fetus schockiert“ mit einem ausgesprochen negativen Inhalt:
Ich war noch nicht geboren
Als ich schon mein Herz hörte
Als mein Leben
Ohne Liebe entstand
Langsam glitt ich weiter
Im Menschenkörper
Die Adern hinab
Meinem Schicksal folgend
Das zweite Album „Pollution“ (Anfang 1973 veröffentlicht) nimmt diese Thematik wieder auf und fokalisiert sie auf den (auch philosophisch und religiös stark aufgeladenen) Bruch der Menschheitsgeschichte mit dem sonstigen biologischen Evolutionsverlauf. Am biblischen „Macht euch die Erde untertan“ verschluckte sich damals schon Battiato und heute, fast 50 Jahre später, die gesamte Menschheit. Da hilft auch kein Kräuterlikör Ratzeputz. Der Mensch als einzige um ihrer selbst willen von Gott gewollte Kreatur, wie Papst Paul VI in der Enzyklika „Gaudium und Spes“ 1965 großmäulig verlautbarte? Die Krone der Schöpfung ist längst zur Dornenkrone geworden. Die Umweltverschmutzung, die der englische Albumtitel für ein elitäres, der Sprache des perfiden Albion mächtiges Italien 9Anfang der Siebziger thematisierte, ist 1972 noch kein gesellschaftlich relevantes Thema. Erst 1979 wird die erste Klimakonferenz in Genf einberufen, deren apokalyptische Warnungen allerdings nicht in die politischen Kommandozentralen durchdringen. Wer außer ein paar überspannten Wirrköpfen glaubt schon an den Treibhauseffekt und die Sättigung der Erdatmosphäre mit Kohlendioxid aus fossilen Brennstoffen, die in einem absehbaren Zeitraum das Polareis schmelzen und den Meeresspiegel um 5 Meter steigen lassen werden? Die 1980 in Karlsruhe gegründete Partei „Die Grünen“ kommt bei der Bundestagswahl im Oktober auf gerade einmal 1,5 Prozent der Stimmen. Das Landschaftskunstwerk von Joseph Beuys 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung wird 1982 auf der documenta 7 ausgestellt, bleibt aber für Leute mit gesundem Menschenverstand das Werk eines psychopathischen Spinners. Es ist schon erstaunlich, mit wieviel prophetischer Voraussicht Franco Battiato 1973 in „Pollution“ das drohende Grauen einer zerstörten Welt zur Sprache und Musik bringt oder wie präzise schon 1980 im ersten Grundsatzprogramm der Grünen das brennende Haus dokumentiert wird:
… Die ökologische Weltkrise verschärft sich von Tag zu Tag: Die Rohstoffe verknappen sich, Giftskandal reiht sich an Giftskandal, Tiergattungen werden ausgerottet, Pflanzenarten sterben aus, Flüsse und Weltmeere verwandeln sich in Kloaken, der Mensch droht inmitten einer späten Industrie[-] und Konsumgesellschaft geistig und seelisch zu verkümmern, wir bürden den nachfolgenden Generationen eine unheimliche Erbschaft auf …
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