Die Menschen trugen seltsame Gewänder. Samuel hatte das Gefühl, er würde sich im Mittelalter befinden. Vielleicht hatte er einen Zeitsprung gemacht. Doch fühlte er sich hier nicht fremd, eher konnte man seinen Gemütszustand mit wohlfühlen beschreiben. Je länger er dort auf dem Weinfass saß, desto mehr hatte er das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes zu sein.
Jeanshose und Turnschuhe waren natürlich nicht so ganz passend. Als er aber an sich herabblickte, konnte er keine Jeans mehr erblicken. Sie hatte sich aufgelöst. Oder war sie vielleicht nie da gewesen? Er trug die gleichen Kleidungsstücke, wie die Menschen um ihn herum. Woher kam plötzlich die Kleidung? Samuel konnte sich nicht daran erinnern, derartige Kleidung gekauft oder getauscht zu haben. Die Kleidung war einfach da. So wie er auch einfach da war. Und er trug sehr interessanten Schmuck. Eine Perlenkette zierte seinen Hals. Es waren feine, schwarze Perlen. Sie glänzten in der Sonne und funkelten aus dem Inneren heraus. An den Händen trug er keinen Schmuck, jedoch befand sich auf seiner Rechten ein Hennagemälde. Es war reichlich verziert. Als er seine Linke betrachtete, war dort plötzlich auch ein Gemälde auf der Haut entstanden. Sehr interessant. Man musste sich bloß betrachten, und schon entstand ein schmuckes Muster auf der Haut. Als er seine Unterarme betrachtete, sah er auch dort ein wunderschönes Muster entstehen. Es war dunkelbraun, und es wuchs, als würde man eine Rankpflanze über die Haut wandern lassen. Es wuchs jedoch symmetrisch und synchron auf dem linken und dem rechten Unterarm. Fast hatte Samuel das Gefühl, es würde ihm besondere Kräfte verleihen.
Im Allgemeinen schien es Samuel, als wäre es hier in dieser Gasse, Straße, Allee, oder in diesem Dorf, vielleicht auch in dieser Stadt ziemlich ruhig und entspannt. Er wusste nicht, ob das, in dem er sich befand, ganz klein oder ziemlich groß war. Es hätte eine Gasse sein können, aber auch eine Großstadt. Da er nicht wusste, wo er war, interessierte ihn auch nicht die Größe der Menschenansammlung. Viel wichtiger war das allgemeine Getue und Gehabe. Man feilschte miteinander, Waren wurden getauscht, es wurde in der Luft herumgefuchtelt, als würde man der Wichtigkeit der eigenen Waren damit besonderen Ausdruck verleihen wollen. Die Leute stritten um den Preis, drückten ihn und trieben ihn nach oben, sie erfanden Geschichten, um die Waren teurer zu machen oder um zu dramatisieren, damit die Preise schrumpften. Manchmal schlugen sich die Leute gegen den Kopf. Sie gaben sich Ohrfeigen. Vielleicht war das ihre Art und Weise zu handeln. Musste man sein Gegenüber demütigen? Funktionierte das hier so?
Erst jetzt nahm Samuel die vielen Gerüche wahr: Anis, Lakritz, Gewürze. Er erkannte Lavendel, Rosenduft und Thymian. Ab und zu hauchte ihm Minze in die Nase. Und dann wieder Pfeffer und Curry. Plötzlich streifte ihn eine Rosmarinwolke, und schon wurde diese von einer Prise Schweiß vertrieben. Der Rosmarin war ihm da schon wesentlich lieber. Diesen Schweißgeruch hätte er nun wirklich nicht gebraucht. Aber auch in dieser Welt schwitzten die Leute. Sicher gab es hier auch Seife. Und wenn nicht, dann würde Samuel ganz schnell die Seife erfinden.
Wo war er bloß? Er konnte es sich nicht erklären. Er konnte es auch von nichts ableiten. Dies führte dazu, dass er völlig orientierungslos war. Er hätte im Orient sein können, genauso auf einem Markt in China. Oder in Russland.
Vielleicht sollte er jemanden fragen. Doch wen? Und was würde passieren, wenn er jemanden fragen würde? Er würde sich als Fremdling offenbaren. Jeder würde mit dem Finger auf ihn zeigen. Sie würden ihn womöglich vertreiben, sodass er sich das lebendige Treiben nicht länger ansehen können würde. Also zog er es vor, niemanden zu fragen und stattdessen lieber zu beobachten.
Samuel beobachtete die Technik, die hier zum Einsatz kam. Oder sollte man lieber die Nicht-Technik sagen? In seinen Augen war sie hinterwäldlerisch. Er musste im Mittelalter gelandet sein. Wagenräder aus Holz, Löffel und Gabeln aus Holz, Kämme aus Holz, Gürtelschnallen aus ... Metall? Oha, es gab schon Metall. Er befand sich also nicht in der Steinzeit.
Es gab auch keine Werkzeuge, die ihm bekannt waren. Hier wurde noch mit Werkzeugen gearbeitet, die aussahen wie Hammer und Meißel aus Steinen. Filigrane Werkzeuge wie Schraubendreher, Zangen oder Pinzetten waren hier nicht existent.
Jegliche Form von höher technisierten Geräten gab es ebenfalls nicht. Es gab keinen Strom und scheinbar auch keine Präzision. Alles war so in etwa . Man arbeitete mit Schätzeisen. Große Längen wurden mit Schritten gemessen, kleine mit Ellen, Händen oder Daumen. Zeit maßen sie in Augenblicken oder sie verglichen Zeiträume mit Arbeitsabläufen, wie solange es dauert, um ein Brot zu backen oder in der Nase zu bohren. Und diese Maßeinheiten wurden akzeptiert. Es gab keine Diskussion darüber, ob jemand einen dicken oder einen kleinen Daumen hatte. Ach ja, und Winkel gab es auch nicht. Von denen wollten sie nichts wissen. Die Winkel zwischen ihren Fingern reichten für die grundlegenden Dinge wie zum Beispiel Dachbau völlig aus.
Samuel begutachtete seine direkte Umgebung etwas genauer. Als erstes schaute er sich die Häuser an und stellte fest, dass viele von ihnen aus massiven Steinblöcken gebaut waren. Um welche Art von Stein es sich handelte, konnte er nur raten. Es musste eine Art Basalt sein. Der Stein an sich war sehr hell, und er war gesprenkelt. Die Erbauer der Häuser hatten handliche Blöcke aus ihnen geschlagen, die perfekt aufeinander passten. Sie waren so passend geschlagen, dass sie keinen Mörtel benötigten. Wie sie die Zwischenräume jedoch winddicht bekamen, war ihm ein Rätsel. Vielleicht verwerteten sie ja den Mist der Tiere zum Abdichten. Aber er musste ja nicht alles wissen. Die Häuser sahen jedenfalls sehr robust aus, und auch sehr schnuckelig.
Die Fenster der Häuser waren relativ klein gehalten. Die Rahmen bestanden aus Holz, die Scheiben aus buntem Glas. Man konnte durch sie hindurch blicken. Wenn man von innen herausblickte, sah man die Welt in bunten Farben leuchten. Sicher zauberten die Einwohner auf diese Art und Weise ganz spezielle Atmosphären in den Räumen. So konnte er sich vorstellen, in einem Wohnzimmer vielleicht gelbes, gemütliches Licht zu bevorzugen, in Schlafzimmern rotes, um eine romantische Atmosphäre zu zaubern, und in einer Küche möglicherweise bläuliches Licht.
Nahezu aus jedem Haus sah Samuel Rauch aus den Schornsteinen aufsteigen. Sicher kochten sie gerade etwas zu essen, oder sie heizten mit Feuer. Oder sie saßen gemütlich am Kamin. Samuel betrachtete die Natur und überlegte, ob sie tatsächlich heizen würden. Es war Frühling, überall schossen Blumen aus dem Boden, sie blühten um die Wette und wurden von zahllosen Insekten besucht. Zudem war es angenehm warm. Ob es allerdings nachts auch so warm war, zweifelte er an. So ein Haus aus massivem Stein heizte sich sicher nicht so schnell auf, wenn die Sonne darauf schien.
Nun betrachtete er sich selbst. Er trug eine Hose aus handgefertigtem Stoff. Man konnte es direkt daran erkennen, dass der Stoff nicht gleichmäßig gewoben war, sondern unregelmäßig mit mal dicken, mal dünnen Fäden. Vermutlich waren die Wollfäden auch von Hand gesponnen. Ach was, nicht vermutlich, sondern ganz sicher. Warum sollten sie aus Maschinen stammen? Hier gab es doch gar keine Maschinen. Die Qualität der Hose war jedoch sehr gut. Er fror nicht darin. Sie isolierte sehr gut gegen Kälte, und sie sah auch noch gut aus. Fast war sie schon zu warm. Und sein Hemd? Es musste aus Baumwolle gefertigt sein. Wäre es aus Wolle gewesen, hätte es sicher wesentlich mehr gekratzt. Wolle mochte er auf seiner Haut nicht gern tragen. Vielleicht gab es hier aber auch Tiere, die eine wesentlich weichere Wolle produzierten, die nicht kratzte. Schafe produzieren kratzende Wolle.
Читать дальше