„Nein, du kannst nicht herunterfallen.“
„Ich bin noch nie auf einem Tier, äh, Tori geflogen. Ich muss gestehen, ich habe vor dem Fliegen ein wenig Angst. Warum kann ich nicht herunterfallen?“
„Du musst keine Angst haben, ich halte dich fest.“
„Wie kannst du fliegen und mich gleichzeitig festhalten?“
„Du wirst es sehen. Du schnallst dich an mir fest.“
„Okay, du hast also einen Gurt, oder ein Seil, mit dem ich mich an dir festbinde?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Wie soll ich mich dann an dir festschnallen?“
„Ich habe spezielle Tentakel, mit denen ich dich festhalten kann. Ich kann sie ausfahren und dich damit halten. Du kannst sie jetzt nicht sehen, aber wenn du dich auf meinen Hals setzt, siehst du sie. Sie sind dafür gemacht, dass du nicht herunterfällst, wenn ich Saltos in der Luft mache.“
„Das ist unglaublich! Du hast Tentakel am Hals?“
Samuel stellte sich gerade vor, in einem Wagen einer Achterbahn zu fahren, ohne Sicherheitsbügel vor sich zu haben. Die einzige Sicherung, die ihn während der Fahrt hat, wären Tentakel. Mithilfe dieser Tentakel würde er sich am Wagen der Achterbahn festhalten. Nicht gerade vertrauenserweckend.
„Du willst Saltos in der Luft machen?“
„Ja, und Luftrollen.“
„Nein! Mach das bitte nicht. Ich habe Angst vor so was! Dann muss ich kot… ich meine, ich muss dann erbrechen. Wir können zusammen fliegen, wenn du geradeaus fliegst. Aber nur geradeaus. Keine Rollen, keine Saltos.“
„Menschen sind wirklich langweilig.“
Das Tori stöhnte laut.
„Ja, wenn es denn sein muss, dann fliegen wir nur geradeaus. Aber wir müssen auch nach oben und nach unten fliegen, sonst heben wir nicht ab.“
„Gut. Aber mehr nicht. Wenn ich keine Angst mehr habe, darfst du auch Kurven fliegen.“
„Also gut. Wenn ich aber keine Kurven fliege, gelangen wir nicht dorthin zurück, von wo wir abgeflogen sind.“
„Ja.“
Das Tori hielt die Menschen schon immer für sehr langweilig und ängstlich, was das Fliegen betraf. Aber der Mensch namens Samuel bestärkte ihn noch in seiner Meinung. Er war nicht nur ängstlich und langweilig, er war auch noch feige. Nein, schlimmer noch. Er war die Steigerung von feige. Aber dafür gab es kein Wort.
„Ich werde keine flugtechnischen Kunstwerke mit dir durchführen. Wir fliegen nach oben, dann geradeaus, schließlich wieder nach unten. Ich verspreche es. Wir werden ganz sanft die Welt von oben betrachten.“
„Ich bin ziemlich aufgeregt und gespannt auf meinen ersten Flug. Es muss grandios sein, durch die Luft zu segeln. Wenn du mir versprichst, dass du mich festhältst, vertraue ich dir und werde bestimmt keine Angst haben.“
„Ja, ich verspreche es.“
Das Tori hatte sich mittlerweile genügend ausgeruht und sein Essen verdaut. Es war wieder zu Kräften gekommen und schien nun wieder fliegen zu können. Also wagte Samuel sich in sein großes Abenteuer.
„Los, steig auf.“
Ziemlich ungeschickt versuchte er, den Hals des Tori zu erklimmen.
„Wo soll ich mich festhalten? Es gibt keine Haare und keine andere Möglichkeit hochzuklettern. Eine Treppe gibt es auch nicht.“
Auf was hatte er sich da bloß eingelassen?
„Immer mit der Ruhe, mein Freund.“
Das Tori senkte den Hals bis auf den Fußboden. Jetzt hatte Samuel keine Mühe mehr, aufzusteigen. Er setzte sich hin und fühlte sich etwas unsicher. Seine Beine standen zwar noch auf dem Fußboden, aber wo sollte er sie hin tun, wenn das Tori aufstand?
Plötzlich fuhren wie bei einem Seeigel schlauchartige Tentakel aus der Haut des Tori, die nach ihm tasteten und sich an ihm festhielten. Sie hielten sich dermaßen heftig fest, dass er keine Chance hatte, sich auch nur einen Finger breit von der Stelle zu bewegen. Samuel waren die Tentakel ein wenig unheimlich. Hoffentlich bissen sie keine Löcher in ihn hinein.
Und nun erhob sich das Tori. Schlagartig schoss Samuels Puls in die Höhe. Als das Tori aufrecht stand, befand er sich in einer Höhe, die zwei ausgewachsenen Männern übereinander entsprach.
„Ähm, und ich kann hier wirklich nicht herunterfallen?“
Samuels Beine, die ebenfalls unter Kontrolle der Tentakel waren, begannen zu zittern.
„Nein, kannst du nicht. Versuch es doch mal.“
„Es kann nichts passieren. Es kann gar nichts passieren. Das ist alles nur irrationale Angst, oder wie man das nennt. Ich bin es nur nicht gewohnt. Ich bin ganz entspannt und locker. Und ich kann nicht herunterfallen. Ich bilde mir all meine Angst nur ein.“
Vor lauter Aufregung versteifte sich sein ganzer Körper. Dies spürte das Tori natürlich sofort.
„Du musst lockerer werden. Wenn du so steif auf mir hängst, kann ich nicht fliegen. Atme tief durch. Lass deine Arme locker von dir herabhängen.“
Samuel konzentrierte sich auf seine Arme und versuchte, die Muskeln zu entspannen. Es funktionierte beim Zahnarzt, warum nicht auch hier?
„Ist es so besser?“
„Ja, so ist es gut. Und nun konzentriere dich auf deine Beine. Sie müssen locker in der Luft pendeln.“
Leichter gesagt als getan. Samuel gab sich die größte Mühe. Was kam da bloß auf ihn zu?
„Ich kann wirklich nicht herunterfallen?“
„Nein, Samuel, wenn ich es dir doch sage.“
Auch seine Beine bekam er unter Kontrolle. Nun lockerte sich auch der Rest seines Körpers, und er saß nicht mehr wie ein verkrampfter Stock auf dem Hals. Eigentlich war es hier oben ganz bequem. Warum er so eine Angst hatte, konnte er sich gar nicht erklären.
Immer fester packten die Tentakel zu, sodass sein Oberkörper wie in den Sitzen einer Achterbahn festgehalten wurde.
Durch die Tentakel wurden das Tori und Samuel zu einer Einheit.
Samuel spürte, dass sein ganzer Körper keine Chance mehr hatte, auch nur fingerbreit hin oder her zu schaukeln. Er saß wie einbetoniert auf dem Rücken fest. Das nahm ihm zumindest einen Großteil seiner Angst. Endlich konnte er sich nahezu komplett entspannen.
„Wir werden nun abheben. Es wird anfangs ziemlich heftig schaukeln, aber das ist völlig normal. Hab keine Angst, vertrau mir, setze ein freundliches Lächeln auf. Schau nicht so verkrampft.“
Das Lächeln hatte Samuel völlig vergessen. Er war einer der ersten Menschen, der auf einem Tori fliegen durfte. Er sollte ein Grinsen auf dem Gesicht haben, das breiter als der Mund des Tori war. Stattdessen fiel es ihm momentan noch etwas schwer, zu lächeln. Aber dann! Dann kam es plötzlich doch hervor. Ein freundliches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Ich bin jetzt bereit, du kannst abheben.“
„Können kann ich immer, aber darf ich auch?“
„Ja, du darfst.“
Schon begann das Tori, seine gewaltigen, mit Haut bespannten Flügel auszubreiten und damit zu wedeln. Ein enormer Wind strich ihm um den Körper, Staub wirbelte auf, Gras und Steine flogen durch den plötzlichen Sturm durch die Luft. Dann hoben sie ab. Kaum hatte es zwei oder dreimal mit den Flügeln geschlagen, befanden sie sich schon weit über dem Boden. Es schaukelte tatsächlich ziemlich heftig. Da Samuel aber mit dem Tori fest verbunden war, hatte er kaum noch Angst. Immer mehr kam sein Lächeln von Herzen.
Plötzlich flatterte das Tier heftiger. Samuel spürte, dass sich die Richtung von senkrecht nach oben in waagerecht änderte. Als säße er auf einer Rakete, ging es nun vorwärts. Das Tori streckte den Körper, Samuel lag jetzt flach auf seinem Hals. Dank der Stromlinienform und dem Windschatten hinter dem großen Kopf bekam er nicht so viel Wind in die Augen, wie er befürchtet hatte. Er konnte sehr gut seine Augen offen halten. Und das lohnte sich. Von hier oben hatte er einen atemberaubenden Blick über die Natur. Büsche und Bäume wurden ganz klein unter ihnen und schossen nur so an ihnen vorbei. Sie hatten nun die Flughöhe der umliegenden Berge erreicht. Das Tori hatte wirklich nicht zu viel versprochen, es ging stets geradeaus. Es flog keine Kurven. Samuel war sprachlos, er wurde von seinen Glücksgefühlen übermannt. Also tat er das, zu was er in seinem Zustand noch in der Lage war: Jubeln vor Freude.
Читать дальше