Ich erschrak, als die lose herunterbaumelnde Glühbirne über meinem Kopf aufleuchtete. Das Quietschen der Scharniere ließ mich erneut zusammenzucken. ‘Psycho Gary’ zog von draußen die Tür zu. Meine Augen fielen auf das Schloss, doch es steckte kein Schlüssel darin. Aber selbst wenn er da gewesen wäre, was hätte das schon gebracht? Sich selbst auf der Toilette einzuschließen war sicherlich auch kein wirklich intelligenter Schritt in die Freiheit. Ich lauschte für einen kurzen Moment nach irgendwelchen Geräuschen, dann kletterte ich vorsichtig mit beiden Füßen auf die Klobrille und stützte mich an der Wand ab. Meine Augen versuchten, durch die Entlüftung einen Blick nach draußen zu werfen, doch enttäuscht musste ich feststellen, dass das Loch von außen verschlossen war. Vielleicht waren in unmittelbarer Nähe Menschen, die mich retten konnten, aber ich traute mich nicht, um Hilfe zu rufen. Niedergeschlagen stieg ich wieder herab und verrichtete mit leichtem Unwohlgefühl mein Geschäft. Ich wusch mir die Hände und öffnete vorsichtig die Tür. Leise trat ich auf den Flur hinaus, in der Hoffnung, unbemerkt die Treppe emporsteigen zu können.
»Du kennst den Weg zurück, oder?« Die Stimme des Mannes ließ mich zusammenzucken. Er lehnte neben der Tür an der Wand und starrte abwesend vor sich hin.
Stumm nickte ich ihm zu und ging mit langsamen Schritten den Flur entlang. Ich betrat mein Zimmer und blieb gedankenverloren stehen. Das Zuschlagen der Tür erschreckte mich diesmal nicht. Die beklemmende Dunkelheit hatte wieder Besitz von mir ergriffen.
Ich tastete mich zu meinem Bett durch und setzte mich. Ich wollte mich gerade hinlegen, als ich das Knarren von Türscharnieren hörte. Das Geräusch kam nicht von meiner Tür, schien aber doch sehr nah zu sein und ich lauschte angespannt. Ich stand auf und ging zu der Wand zu meiner Linken. Unsicher legte ich das Ohr gegen die kühlen Steine. Das Geräusch von Schritten drang zu mir durch, gefolgt von leisen, unverständlichen Worten. War dort noch jemand? Jemand, der mir helfen konnte? Oder hatte dieses Schwein noch einen Komplizen?
Ich blickte an der Wand entlang und erkannte einen feinen, kaum sichtbaren Lichtstrahl, der in der hinteren Ecke vom Nebenzimmer aus in meinen Raum fiel. Mit schnellen Schritten eilte ich dorthin und ließ mich auf die Knie fallen. Der Verputz war an mehreren Stellen abgebröckelt und legte an dieser Stelle eine löchrige Fuge zwischen zwei Mauersteinen frei. Ich duckte mich tiefer und spähte mit dem rechten Auge durch die kleine Ritze. Enttäuscht stellte ich fest, dass der Riss viel zu klein war, um irgendetwas zu erkennen. Ich hörte wieder die Schritte im Nebenzimmer, dann wurde das Licht gelöscht und die Tür zugeschlagen.
Ich hielt für einen Moment den Atem an, doch die Schritte auf dem Flur entfernten sich wieder von mir. Ruckartig sprang ich auf und lief so schnell, wie es die Dämmerung zuließ, zu dem kleinen Tisch mit dem Tablett. Ich griff nach dem Löffel, betrachtete ihn und kehrte zurück in die hintere Ecke des Raumes. Dort hockte ich mich nieder und begann mit dem Stiel des Löffels in der Fuge herumzukratzen. Der Riss war jedoch so klein, dass ich es kaum schaffte, irgendwo richtig anzusetzen.
Ich wollte gerade aufgeben, als mir mehrere kleine Klumpen entgegenkamen. Hektisch stach ich mit dem Löffel in die Fuge hinein, um das Loch zu vergrößern. Doch nach wenigen Minuten musste ich einsehen, dass die Wand abgesehen von der einen, porös gewordenen Stelle äußerst massiv und stabil war. Ich hatte einen Riss freigelegt, der ca. einen Zentimeter hoch und drei Zentimeter lang war. Doch ohne Licht im Nebenzimmer war durch diesen Spalt nichts zu erkennen. Genau genommen wusste ich auch überhaupt nicht, was ich mir von dieser Aktion versprochen hatte. Wollte ich mal eben ein paar Mauersteine freilegen, um durch das Nebenzimmer in die Freiheit zu gelangen? Eine selten dämliche Idee. Ich säuberte den Löffel an meiner Bluse und legte ihn wieder neben den Teller.
Kapitel 20 (Steve Delaney)
Ich ging durch die offene Wohnungstür wieder zurück ins Haus und blieb im Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Niemand bemerkte mich, alle waren in ihre eigene Welt versunken. John und Pamela Simms saßen schweigend auf dem Sofa, während Peter Warren am Schrank lehnte und eine Münze zwischen den Fingern jonglierte. Der diensthabende Police-Officer saß im Sessel vor den Abhörgeräten und betrachtete seine vor dem Bauch gefalteten Hände. Die Stille im Hause war unerträglich, doch niemandem war nach Reden zumute. Es war mittlerweile kurz nach neunzehn Uhr und ganz allmählich legte sich eine gleichmäßige Dämmerung über den Vorgarten der Familie.
In Gedanken ließ ich die seltsamen Entwicklungen der letzten zwei Tage noch einmal Revue passieren: Es begann als eine ganz ‘ normale ’ Entführung und wurde urplötzlich zu einer heißen Spur in einem ungelösten Mordfall. Ein vermeintlich gesetzestreuer Familienvater wurde unerwartet von einem Kindesentführer als Mörder und Vergewaltiger geoutet. Der Anruf warf die Frage auf, wer der Böse und wer der Gute in diesem Spiel war – oder ob dies vielleicht das Spiel ‘ böser Mann ’ gegen ‘ noch böseren Mann ’ war. Wie dem auch sei, die Auswirkungen dieses vulkanähnlich ausgebrochenen Konfliktes musste nun plötzlich ein unschuldiges Mädchen ertragen. Sie war zu einem Spielball zweier konkurrierender Interessen geworden und konnte bei diesem ungewöhnlichen Zweikampf eigentlich nur verlieren. Wenn es dem Entführer wirklich um eine – wenn auch groteske – Form von Gerechtigkeit ging, dann war sie zur Zeit wahrscheinlich nicht in akuter Lebensgefahr.
Mein Blick fiel auf John Simms, der noch immer reglos vor sich hinstarrte. Ich spürte förmlich die panische Angst, die sich in den Augen des Familienvaters spiegelte. Angst um seine Tochter oder Angst vor der Entlarvung als Mörder? Mit zunehmender Berufserfahrung lernte man automatisch, andere Leute einzuschätzen und teilweise hinter die äußere Fassade der Menschen zu sehen. Aber bei John Simms versagte meine Menschenkenntnis auf der ganzen Linie. Dieser Mann wirkte dermaßen übertrieben harmlos, dass er in einer schwer zu beschreibenden Weise schon wieder sehr auffällig war.
Die Stille war so durchdringend, dass man das Fallen einer Stecknadel in jedem Winkel der Wohnung gehört hätte. Als Peter Warrens Münze zwischen Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand hindurch glitt und auf dem gefliesten Boden aufschlug, war die Wirkung um ein vielfaches höher. Alle zuckten zusammen und starrten nervös auf das Geldstück, das in schwankenden Bewegungen über die Fliesen rollte. Peter bückte sich schuldbewusst, hob die Münze auf und steckte sie in seine Hosentasche.
Jetzt bemerkten sie mich und ich atmete tief durch. Als ich das Wohnzimmer betrat, blickte ich in die fragenden, weit aufgerissenen Augen der anderen Anwesenden.
»Wir haben Ihre Fingerabdrücke mit denen auf der Tatwaffe verglichen, Mr. Simms. Sie stimmen nicht überein. Außerdem hat Ihre Bank uns bestätigt, dass Sie am Tag des Mordes ganz normal ihren Dienst verrichtet haben. Es existieren zahlreiche Papiere, die definitiv an diesem Tag von Ihnen gegengezeichnet worden sind. Es gibt somit keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Sie etwas mit dem Mordfall Casparido zu tun haben. Es tut mir leid, dass wir Sie in dieser schwierigen Situation damit konfrontiert haben, aber wir müssen nun mal allen Hinweisen nachgehen. Ihr Mann ist kein Mörder, Mrs. Simms.«
Ich blickte beiden abwechselnd in die Augen und ließ die Sätze ganz bewusst ein paar Sekunden lang im Raum stehen. Ich wollte sichergehen, dass sich jenes Spannungsfeld, das sich zwischen uns gebildet hatte, auflösen konnte. Wir mussten an einem Strang ziehen, und dabei durfte es keine Konflikte oder Probleme zwischen den beteiligten Personen geben. Sowohl Pamela, als auch John Simms nickten mir schließlich zaghaft zu. Nun konnten wir uns wieder auf die eigentliche Sache konzentrieren.
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