Trotz der Wirkung der Biere vom Nachmittag gelang es ihm erstaunlich gut, mit der gerade aufgestauten Wut seine Hausaufgaben zu machen. Die Aufgaben zum Integral waren kein Problem, das Kurzreferat über die Bergvölker in Marokko ebenfalls nicht, und die Lateinübersetzung schrieb er mit einigen absichtlich eingebauten Fehlern aus dem Pons ab. Über der aktuellen ´pardon´ war er dann am Schreibtisch eingeschlafen.
Am 18.10.1966 kam der Musterungsbescheid nach Hause. Jo hatte schon drauf gewartet, weil die meisten anderen Jungs im Dorf und in seiner Klasse die Prozedur schon hinter sich hatten. Insgeheim hatte er allerdings darauf gehofft, vielleicht vergessen worden zu sein. Aber das hatte sich ja jetzt auch erledigt. Zwei Wochen später hatte er seinen Termin beim Kreiswehrersatzamt. Da sollten dann die Weichen für die nähere Zukunft gestellt werden.
Jo hatte eigentlich noch keine konkreten Vorstellungen über seine Zukunft. Nur über zwei Dinge war er sich ziemlich sicher. Er wollte weg von zu Hause, und er wollte nicht zur Bundeswehr. Die Jungs aus dem Dorf, die etwas älter waren, kamen hin und wieder in Uniform nach Hause. Die hatten einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, den sie weidlich ausnutzten. Der Bund war eben eine völlig andere Welt, die offensichtlich für einige auch was Faszinierendes hatte. Für Jo blieb aus den Schwärmereien etwas anderes hängen, nämlich Drill, Fremdbestimmung, Disziplin und Schinderei. Außerdem hatte er was gegen Uniformen. Deswegen war er schon als einer von wenigen aus seinem Jahrgang nicht Mitglied im Schützenverein von Langhorst geworden.
Der Opa hatte den ersten und den zweiten Weltkrieg überlebt. Der meinte, man brauche nicht jetzt schon wieder eine deutsche Wehrmacht, da käme sowieso nichts Gutes bei heraus. Sein Vater sprach nie über den Krieg. Er war erst 1946 aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt. Mutter hatte mal gemeint, er hätte ziemlich schreckliche Sachen erlebt, die er tief in seinem Innersten vergraben hatte. Deswegen sei er auch immer so still.
Am Gymnasium war die allgemeine Stimmung grundsätzlich gegen die Bundeswehr gerichtet. In den letzten Abi-Jahrgängen hatte es jeweils ein oder zwei Jungs gegeben, die sich freiwillig für eine Offizierslaufbahn entschieden hatten. Bei denen lag der Grund aber wohl hauptsächlich darin, dass sie für ein Studium nicht den nötigen Grips hatten. Soldat als Beruf war scheinbar nur was für die Doofen.
Bei den älteren Lehrern gab es einmal die ewig Gestrigen. Wöhler war das Prachtexemplar von denen. Der hatte noch nicht so richtig realisiert, dass Nazi-Deutschland vorbei war. Er lebte jenseits aller Realitäten ziemlich ungeniert seinen Traum von der deutschen Herrenrasse weiter. Aber es gab noch zwei, drei andere, die ihre braune Gesinnung nicht verleugnen konnten. Da fielen im Unterricht schon mal Begriffe wie „Raum im Osten“, „ asiatische Untermenschen“ oder “unwertes Leben“. Studienrat Päffken hatte angeblich im Krieg ein paar Tage schwer verletzt unter einem Panzer gelegen, bevor er geborgen wurde. Die psychischen Spätfolgen waren immer noch deutlich erkennbar. Sie blieben auch für sein Verhalten als Lehrer nicht ohne Einfluss. Wenn die Schüler keine Lust auf seinen Geographieunterricht hatten, und das hatten sie selten, dann baten sie ihn, doch von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen. Damit war der Rest der Stunde gelaufen. Eine Klasse hatte ihn einmal sogar so weit gebracht, dass er in seiner Bundeswehruniform zur Schule kam. Er war nämlich Oberst-Leutnant der Reserve. Hatte sich dann aber wohl von Oberstudiendirektor Dr. Weiser einen Rüffel eingefangen. Der war ein Humanist der alten Schule.
In der Oberprima stand im Geschichtsunterricht „Deutschland von 1933 bis zur Gegenwart“ auf dem Lehrplan. Aber in den vergangenen Jahren war kein Lehrer soweit gekommen. Die Zeit dafür war angeblich einfach zu knapp. In Wirklichkeit hatten die alten Säcke aber immer noch Probleme, die jüngere Geschichte und womöglich auch ihre persönliche Stellung darin dem neuen Staatsverständnis entsprechend zu vermitteln. Ob Unsicherheit, Trotz oder nostalgische Gedanken an das tausendjährige Reich dabei eine Rolle spielten, entzog sich den Schülern natürlich. Und mit den Kurzschuljahren war damit zu rechnen, dass sich an der bisherigen Übung des Totschweigens nichts ändern würde.
Jo hatte also mit der Bundeswehr nichts am Hut. Deswegen kam der Musterung für ihn besondere Bedeutung zu. Er musste es irgendwie hinbekommen, als untauglich ausgemustert zu werden. Hausarzt Dr. Hoppe hielt auch nichts vom Bund. Deshalb hatte der ihm ein Attest über ein nervöses Magenleiden mit Tendenz zu Magengeschwüren ausgestellt. Er hatte tatsächlich Magenprobleme, insbesondere dann, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte. Im Letzten Heller gab es ein paar ganz Schlaue, die absolut wirksame Methoden kannten, um als untauglich ausgemustert zu werden. So wurde das Gerücht verbreitet, man müsse vor der Musterung zwanzig Tassen Kaffee trinken und einhundert Zigaretten rauchen, dann bekäme man einen Kreislaufkollaps. Wer kleine Kügelchen aus Stanniolpapier schluckte, täuschte damit auf dem Röntgenschirm angeblich Magengeschwüre vor. Allerdings kamen die meisten von diesen ganz Schlauen auch als Tauglich wieder zurück.
Kriegsdienstverweigerung war zwar ein Thema, schien aber nur etwas für die ganz Harten zu sein. Da wurde man vor eine Kommission zur Gewissensprüfung eingeladen. Die stellten dann komische Fragen, auf die es beim besten Willen keine plausible Antwort geben konnte. „Was würden Sie tun, wenn eine russische Soldatenhorde in ihr Haus eindringt und ihre Mutter vergewaltigt?“ Da konnte man rumreden wie man wollte, man war letztlich immer der Dumme und wurde eingezogen. Angeblich hatten nicht einmal die Zeugen Jehovas eine Chance, aber man hörte, die gingen lieber ins Gefängnis als zum Bund.
Der Musterungstag war ein Tag schulfrei, aber an dem Tag wäre Jo liebend gerne zur Schule gegangen. Er war auf 7.30 Uhr vorgeladen. Da er vierzig Kilometer von zu Hause fahren musste, war er für seine Verhältnisse schon mitten in der Nacht aufgestanden. Auf der Fahrt beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Horrorvorstellung, dass er nackt vor einer Kommission steht und der Arzt ihm an die Eier greift. Das hatte er mal in einem alten Film gesehen.
Als er das Kreiswehrersatzamt betrat, war der erste Eindruck der Geruch von Bohnerwachs und Muff. Zunächst bekam er bei der Anmeldung eine Menge Formulare in die Hand gedrückt, die er ausfüllen musste. Neben vielen Personaldaten gab es unter anderem die Frage: „Gehören Sie einer kommunistischen Partei an?“ Jo überlegte einen Augenblick, ob er seinem Ziel der bescheinigten Untauglichkeit einen Schritt näher kommen würde, wenn er mit „Ja“ antworten würde, entschied sich dann aber wahrheitsgemäß für ein „Nein“. Dann kam die berüchtigte Gesundheitsuntersuchung. Sein Attest wurde gleich zur Seite gelegt und nicht weiter beachtet. Zunächst musste er Blut und Urin abgeben, dann wurde er, nur noch mit der Unterhose bekleidet, vermessen und gewogen. Danach musste das letzte Kleidungsstück auch noch fallen. Nackt und völlig verunsichert wurde er in das Zimmer geschoben, an dessen Tür ein Schild klebte: Dr. Streber, Oberstabsarzt. Hinter einem Schreibtisch aus beigem Blech saß ein kleines Männchen in einem viel zu groß geratenen Arztkittel. Es roch nach Rauch. Das Männchen hatte einen großen Aschenbecher vor sich, der, obwohl es erst gegen neun Uhr war, bereits gut gefüllt war mit filterlosen Kippen. Neben dem Aschenbecher lag eine leuchtend blaue Schachtel Nil. Gerade nahm er sich eine neue der ovalen Orientzigaretten aus der Schachtel und steckte sie mit dem Stummel der vorhergehenden an. Jo beobachtete den Arzt, der scheinbar von ihm keine Notiz nahm. Er hatte einen länglichen Kopf, nur noch wenige schwarze Harre darauf und eine überdimensionierte dunkle Hornbrille auf der Nase. Irgendwie erinnerte er Jo an Adolf Eichmann oder jedenfalls an einen KZ-Arzt. Plötzlich stand der auf und schnarrte: „Mund auf!“ Er kam Jo bei seiner Untersuchung so nah, dass der den leicht süßlichen Geruch des Orienttabaks in einer Mischung mit alten Körperausdünstungen wahrnahm. Jo wich einen Schritt zurück. Drauf drehte sich das Männchen wieder um, schrieb ein paar Notizen auf ein Formular und gab es Jo mit seinen nikotingelben Fingern. „Vorne abgeben! Das war’s“. Jo war schon wieder draußen, ohne Genitalüberprüfung. Er konnte sich wieder anziehen. Es machte nicht den Eindruck, als ob das für ihn gut gelaufen wäre.
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