»In Hamburg. Ich bin Krankenschwester an einer großen Klinik.«
»Ach, das ist ja interessant.« Richard wäre eigentlich gerne Arzt geworden, aber er engagierte sich nicht in der Partei und hatte daher nur einen Studienplatz für Theologie erhalten.
»Der Schwarzwald ist auch wunderschön.« Jetzt mischte sich Günther mit in das Gespräch ein. »Da kann man herrliche Ausflüge machen.«
»Das kann ich mir denken.« Richard leckte sorgfältig seine Kuchengabel ab. Er litt nicht so sehr unter dem Reiseverbot wie andere DDR-Bürger, aber manchmal wünschte auch er sich, dass das Leben leichter und unkomplizierter wäre.
Ingrid servierte ihm ein zweites Stück Kuchen, und statt sich mit politischen Fragen zu befassen, gab Richard sich wieder ganz dem Genuss dieser wunderbaren Köstlichkeit hin. Das zweite Stück schmeckte fast noch besser, denn nun war der erste Heißhunger gestillt und Richard verlor sich in dem wohligen Gefühl vollkommenen Glücks. Er ließ das fröhliche Geplänkel der Familie über sich hinweg gleiten und widmete sich ganz seinem Kuchen.
Auf einmal brach Hektik aus. Margot musste zum Bahnhof, sie wollte noch heute mit dem Abendzug zurück nach Nürnberg fahren.
»Kinder, jetzt müsst ihr aber machen«, rief Gertrud Engelmann aufgeregt, als Margot immer noch in ein Gespräch mit ihrer jüngsten Schwester Erika vertieft war, von der ihr die Trennung besonders schwer zu fallen schien. Endlich lief Margot ins Haus, um ihr Gepäck zu holen. Die restliche Familie folgte ihr und überhäufte sie mit guten Wünschen und Ratschlägen. Selbst Erna Hempel erhob sich schwerfällig aus ihrem großen Stuhl, um der Enkelin vom Gartentor aus hinterher zu winken.
Nur Richard blieb auf seinem Klappstuhl an der großen, nunmehr leeren Geburtstagstafel sitzen. In all dem Trubel hatte er die Gelegenheit verpasst, sich ebenfalls zu verabschieden, damit die Familie noch ein wenig unter sich sein konnte. Niemand hörte ihm zu, niemand beachtete ihn. Man hatte ihn einfach vergessen.
Richard trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und verscheuchte ein paar Wespen, die sich auf dem Kuchen niedergelassen hatten. Fünf Stücke lagen noch auf der Platte. Ob es auffallen würde, wenn gleich nur noch vier da lagen? Von der Straße her hallten Stimmen herüber. Der Abschied von Margot schien sich noch etwas hinzuziehen. Rasch nahm Richard sich eins der Kuchenstücke und aß es gleich aus der Hand. Dieser Pflaumenkuchen war wahrhaftig ein göttliches Geschenk.
Da bog Ingrid überraschend um die Hausecke. Hastig schluckte Richard den letzten Bissen hinunter und stand auf.
»Entschuldigen Sie vielmals«, rief Ingrid, »mir fiel eben erst auf, dass wir Sie ganz vergessen haben. Sie Ärmster müssen sich ja völlig verlassen vorkommen.«
»Das macht überhaupt nichts.« Richard fühlte beim Sprechen die letzten Kuchenkrümel auf der Zunge. »Ich wollte mich ohnehin auch verabschieden.«
»Möchten Sie nicht noch ein Stück Kuchen essen, Herr Krempin? Kommen Sie, der muss weg.«
Richard zierte sich nicht lange, sondern setzte sich wieder hin und reichte Ingrid seinen Teller. Die Schlagsahne war mittlerweile in der Wärme zerlaufen und umhüllte die Pflaumen nun wie ein fließender Crememantel. Ingrid setzte sich Richard gegenüber und schenkte Kaffee ein.
»Dieser Kuchen ist ehrlich gesagt eine Wucht«, sagte Richard. »Ihre Mutter ist eine großartige Bäckerin.«
Ingrid lachte und versprühte Energie und Lebendigkeit. Während Richard sich mit der Gabel ein weiteres Stück süßer Verführung in den Mund schob, fing er ihren Blick auf. Ihre Augen hatten die Farbe frischer, junger Pflaumen, und als er nun das weiche Fruchtfleisch in seinem Mund erspürte, war ihm, als würde er Ingrids volle, rote Lippen küssen. Auf einmal schien die Welt stillzustehen. Richard vergaß, dass er im Dienst war, und er vergaß die ganze Geburtstagsgesellschaft. Er schmeckte die Süße auf seiner Zunge und fühlte sie gleichzeitig in seinem Herzen. In seinem Mund mischte sich der Teig mit dem saftigen Obst und der Sahne. Er kostete das zarte Fleisch und die samtige Schale einer Pflaume und die verführerische Süße zerlaufenen Zuckers. Die leichte Säure der Früchte sorgte für eine wunderbare Erfrischung, die auf einmal seinen ganzen Körper zum Prickeln brachte.
Ingrid sprach unablässig zu ihm, aber Richard nahm keines ihrer Worte wahr. Er ertrank in ihren pflaumenblauen Augen und verschmolz mit ihr wie die Butterstreusel in seinem Mund mit der Sahne. Die Hitze des Sommernachmittags schlug über ihm zusammen und nahm ihm den Atem.
»… das letzte Stück teilen«, hörte er Ingrid sagen und fragte verwirrt:
»Was, schon das letzte Stück?«
Die Kuchenplatte war leer bis auf ein letztes, besonders mächtiges Stück, das Ingrid nun in zwei Hälften teilte und eine auf Richards Teller legte und die andere auf ihren eigenen. Sie lächelte Richard unablässig an, während sie gleichzeitig mit ihm die Kuchengabel zum Mund führte. Eine Locke ihres dunklen Haares hing ihr keck in das bildschöne Gesicht, und als Richard einen zauberhaften Glanz in ihren Augen entdeckte, begriff er, dass irgendetwas in den letzten Minuten geschehen sein musste, in denen er offenbar, ohne es zu merken, drei Stücke Kuchen gegessen hatte. Auf einmal fühlte er sich wunderbar satt und gleichzeitig so leicht wie das Sommerlüftchen, das soeben aufkam und mit Ingrids Haaren spielte.
Günther schlenderte Arm in Arm mit seiner Frau Barbara zurück in den Garten, dicht gefolgt von der übrigen Familie.
»Ich habe Pfarrer Krempin gerade vorgeschlagen, dass wir morgen alle zusammen zum Paddeln an den Baggersee fahren«, sagte Ingrid, und ihre Wangen glühten. Hatte sie das? Richard konnte sich nicht daran erinnern. Günther musterte seine Schwester und dann den Pfarrer eingehend und sagte schließlich sichtlich erfreut:
»Das ist ja eine großartige Idee!«
Richard schaute wieder in diese pflaumenblauen Augen. Und während die ganze Familie gleichzeitig auf ihn und Ingrid einredete, wurde ihm gewahr, dass er an diesem besonderen Nachmittag im August nicht nur den besten Pflaumenkuchen, sondern auch die Frau seines Lebens gefunden hatte. Er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus:
»Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so satt«, sagte er und leckte sich voller Glück den Zucker von den Lippen.
Elke Rathsfeld
Ehrlich gesagt ist Trauer ein Gefühl, mit dem man nicht kochen kann und gegen das sich nicht ankochen lässt.
Nicht etwa, weil die Trauer mit der Depression zu vergleichen ist, welche bewegungslos und gelähmt in der Ecke sitzt, unfähig, einen Kochlöffel oder einen Pfannenwender zu führen.
Die Depression ist ein selbst hergestellter Zustand, eine vom Körper hart erarbeitete Gefühllosigkeit, eine Ummäntelung des Nichts, eine hormonelle Ärgerlichkeit und vieles mehr. Aber sie ist keine Trauer.
So gesehen ist Trauer eigentlich kein Gefühl, sondern eine Naturkatastrophe, ein Überfall der Wirklichkeit auf die Möglichkeit. Plötzlich steht ein Mensch stumm oder auch brüllend und stiert in die Wahrheit, bohrt mit den Augen Löcher ins Nichts, und Unumkehrbarkeiten schlagen sich glasklar in Herz und Hirn.
Trauer lässt die Welt stillstehen. Lassen Sie sich von anderen nicht das Gegenteil einreden. Auch wenn es den Anschein hat, sie drehe sich weiter. Dem ist nicht so. Sie steht definitiv still, und der Trauernde hört und sieht das ganz genau.
Der Trauernde leidet nicht unter Dopaminmangel, wenn er sich vom Entsetzen lähmen lässt. Und auch ist ihm die Zunge nicht abhanden gekommen, wenn er vor Schmerz verstummt. Gegen beides gibt es keine einzige heilsame Buchstabensuppe und auch keine lindernde Würzmischung.
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