Yvonne Tschipke
Sternenstaub
Eine Adventsgeschichte in 24 Kapiteln
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Yvonne Tschipke Sternenstaub Eine Adventsgeschichte in 24 Kapiteln Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Impressum neobooks
Der Park, der wie eine grüne Insel inmitten der Innenstadt lag, war an diesem Nachmittag belebt wie sonst nur in den wärmeren Jahreszeiten. Einzig die Bäume, deren kahle Äste im Wind knarrten, erinnerten daran, dass heute eigentlich der Dezember begonnen hatte.
Von der alten Mauer, die sich wie eine steinerne Schlange um den Park herum schlängelte, baumelten zwei lange Beine herunter, an deren Ende zwei Füße in Turnschuhen zappelten.
Joshua saß nun schon seit ein paar Stunden hier. Er ließ seine Augen den Weg hinauf und wieder hinunter wandern und beobachtete die Menschen, die durch den Park spazierten oder an ihm vorbei hasteten, ganz genau.
Es war nicht sehr kalt, obwohl wie gesagt an diesem Tag der Dezember begonnen hatte. Das Wetter erinnerte Joshua eher an Ostern. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn - statt leuchtender Weihnachtsbäume – Sträucher mit bunten Eiern in den Vorgärten der Häuser stehen würden.
Joshua saß also da und beobachtete die Menschen. Die jungen, die alten, die großen, die kleinen – alle sahen heute irgendwie fröhlich und glücklich aus. Lag das an dem wunderbaren Wetter?
Oder vielleicht doch daran, dass nun die schönste Zeit des Jahres begann?
Die Menschen behaupteten jedenfalls immer wieder, dass diese besondere Zeit die schönste im Jahr wäre; die Zeit der Lichter und des Glanzes, die Zeit der Heimlichkeiten und der Geschenke. Die Zeit, in der die Menschen wieder einander näher kommen wollten.
Joshua schüttelte fast unmerklich seinen Kopf, während seine Blicke den Leuten im Park folgten. Ja, heute hier im Park sah man es ihnen natürlich nicht an, dass jeder immer nur an sich und seinen Vorteil dachte. Aber sonst? An den anderen Tagen? Joshua hatte schon genug erlebt mit diesen Menschen.
Einander näher kommen – wie bitte schön wollten sie sich näher kommen, wenn sie doch große Gräben zwischen sich und den anderen schaufelten und Brücken zum Einsturz brachten. Und warum wollten sie sich nur in dieser besonderen Zeit näher kommen? Warum bemühten sie sich nicht an all den vielen anderen Tagen im Jahr darum?
Doch heute, an diesem wunderbaren sonnigen ersten Dezembertag schien es in der Tat fast so, als wären alle Menschen um ihn herum sehr fröhlich. Joshua hatte noch nicht ein böses Wort gehört, das einer dem anderen hinterher gerufen hatte. Er war auch noch nicht Zeuge eines Streites geworden, wie an manch anderem Tag. Irgendetwas machte die Menschen heute froh.
Plötzlich blieb Joshuas ganze Aufmerksamkeit an einem Mädchen hängen, das an ihm vorbei schlich. Es war nicht sehr groß und vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, schätzte er. Der dünne Körper steckte in einer viel zu großen Jacke, die das Mädchen offen gelassen hatte. Dafür war die Hose zu kurz, die Schuhe hatten an manchen Stellen Löcher.
Sicher wäre das Mädchen nervös geworden, wenn es bemerkt hätte, dass Joshua es beobachtete. Doch es hatte keinen Blick für den schlaksigen Jungen dort oben auf der Mauer. Die Augen des Mädchens wanderten über die Wiese hinweg zu den Kindern, die dort spielten.
Irgendetwas war seltsam an dem Mädchen, dachte Joshua. Irgendetwas unterschied das Mädchen von all den anderen Menschen hier im Park. Nach ein paar Augenblicken wusste Joshua, was es war. Ja, genau: Das Mädchen war nicht glücklich. Es sah tatsächlich einfach nicht glücklich aus, wie es da so mutterseelenallein durch den Park schlich in seiner viel zu kurzen Hose, der viel zu großen Jacke, den kaputten Schuhen und diesem unendlich traurigen Blick.
Joshua konzentrierte sich mit aller Kraft auf das Mädchen. Vielleicht konnte er es diesmal schaffen. Es musste einfach klappen. Bei der letzten Prüfung war er durchgefallen. Da hatte er es nicht geschafft, die Gefühle und Gedanken eines Menschen zu spüren. Dabei hatte er sich so angestrengt. Er hatte versucht, an nichts anderes zu denken. Aber trotzdem war es ihm nicht gelungen - wieder einmal. Und ganz sicher nur deshalb, weil Raphael und Naomi hinter einem Busch gelauert und ihn mit ihrem albernen Gekicher abgelenkt hatten. Das war volle Absicht! Am liebsten hätte Joshua den beiden nach der verpatzten Prüfung ordentlich die Meinung posaunt und eins über ihren blitzblanken Heiligenschein gegeben oder ihnen ihre feder-weichen Flügel verbogen, doch das durfte er nicht. Nein, das gehörte sich einfach nicht, denn ...
... denn Joshua war ein Engel. Genau wie Raphael und Naomi, oder wie sein bester Engelfreund Samuel. Sie waren da, um den Menschen zu helfen. Um ihnen zur Seite zu stehen – in allen möglichen Situationen.
Aber dazu gehörte natürlich auch, die Menschen zu verstehen. Um ganz genau zu wissen, was sie belastete oder bedrückte, worüber sie sich freuten oder was sie sich wünschten. Und zwar nicht nur das, was sie sagten, sondern ganz besonders das, was sie dachten oder tief in sich fühlten – das was keiner hören konnte.
Aber genau damit tat sich Joshua nun schon seit einiger Zeit ziemlich schwer. Eigentlich schon, seit er alt genug war, um endlich auch zu den Menschen zu gehen und ihnen zur Seite zu stehen.
Aber wenn ein Engel die Menschen nicht verstand, konnte er ihnen natürlich auch nicht richtig helfen. Denn dann wusste er ja nicht, was ihnen wirklich fehlte oder sie belastete. Weil die Menschen ihre tiefsten Wünsche und Gedanken oft nicht offen sagten, sondern für sich behielten. Und nur, wenn ein Engel erfolgreich dabei war, den Menschen zu helfen, dann bekam er den goldenen glitzernden Sternenstaub.
Missmutig schaute Joshua über seine rechte Schulter und besah sich seine Flügel. Sie waren weiß – einfach nur weiß. Gut, an manchen Stellen konnte man leichte Blessuren oder graue Flecken erkennen. Joshua ging nicht gerade zimperlich mit seinen Flügeln um. Aber alle seine Engelfreunde hatten schon glitzernde Sternenstaubkörnchen auf ihren Flügeln. Sie alle hatten die Prüfung bestanden und schon oft den Menschen, die ihnen begegneten, geholfen. Die Flügel von Naomi und Raphael glitzerten mittlerweile schon am meisten. Und damit gaben die zwei auch immer mächtig an.
Joshua seufzte ein wenig. Bei ihm war es jedes Mal das gleiche. Immer, wenn er nach einem Ausflug zu den Menschen zurück nach Hause kam, warteten die anderen schon und fragten neugierig, ob er es denn diesmal endlich geschafft hatte. Und bisher musste Joshua immer traurig den Kopf schütteln.
„Lass den Kopf nicht hängen, Joshua“, tröstete ihn dann sein bester Freund Samuel. „Du wirst es schaffen, das nächste Mal. Du musst dich nur konzentrieren und ganz genau hin hören.“
Samuel hatte gut Reden. Nur konzentrieren. Nur ganz genau hin hören. Wenn das mal so einfach gewesen wäre. Was konnte Joshua denn dafür, dass es dort bei den Menschen so viele spannende Dinge gab. All die bunten Schaufenster, blitzende Autos, Kinder, die jede Menge Spaß zu haben schienen, Musik, Lachen, lustige kleine Hunde, die ihren Besitzern davon liefen ... All die tollen Farben, Geräusche und Gerüche lenkten den jungen Engel von seiner eigentlichen Aufgabe ab.
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