Auch jetzt bei dem kleinen Mädchen im Park wollte es Joshua nicht gelingen, zu spüren, was es so traurig und schwermütig machte. Vielleicht gab es hier im Park mal wieder viel zu viel Ablenkung. Die kleinen Fußballspieler, die über die Wiese jagten und sich lautstark und heiser Kommandos zu brüllten, die Leute, die spazieren gingen oder die Jugendlichen, die den schlaksigen Jungen dort oben auf der Mauer misstrauisch beäugten.
Einen Engel erkannten die Menschen, die vorüber liefen, nicht in ihm. Für sie sah Joshua aus, wie ein ganz normaler Teenager in Jeans, der grünen Jacke und den ausgetretenen Turnschuhen. Seine zerzausten blonden Haare steckten unter einer blauen Baseballmütze. Den Heiligenschein ließen die Engel immer zu Hause, wenn sie bei den Menschen unterwegs waren. Und auch Joshuas Flügel waren für sie nicht sichtbar. Es hätte sie nur verwirrt, diese abgeklärten Menschen, die immer alles ganz genau erforschen und wissen wollten. Die immer meinten, sie wüssten sowieso über alles Bescheid. Und für die es Engel höchstens in Märchen oder zu Weihnachten als kitschige, pausbäckige Dekoration in langen weißen Gewändern gab. Nein, mit echten Engelsflügeln wären diese Menschen vollkommen überfordert.
Joshua stieß sich mit den Händen ab, sprang von der Mauer und landete sicher auf dem Weg.
Es ließ ihm keine Ruhe – er musste einfach wissen, was das kleine Mädchen bedrückte.
Das Mädchen verließ den Park. Joshua folgte ihm so unauffällig wie nur möglich. Hin und wieder blieb das Mädchen stehen und sah sich um. Hatte es ihn etwa bemerkt?
Wenn es notwendig war, konnten Engel unsichtbar werden. Wenigstens das beherrschte Joshua perfekt. Und wenn es notwendig war, konnten sie durch geschlossene Türen und Fenster gehen. Auch das war ihm bisher immer gelungen. Nicht so Raphael – der war erst letztens bei dem Versuch, seinem Menschenkind ungesehen in die Schule zu folgen, gegen eine dicke Holztür geprallt und hatte sich dabei seine glitzernden Flügel ganz schön verbogen.
Joshua versteckte sich hinter dem dicken Stamm eines alten hohen Baumes. Er konzentrierte sich ganz fest auf sich selbst. Nur einen Augenblick später war er bereit, dem Mädchen ungesehen folgen zu können. Er sprang hinter dem Baum hervor und sah sich um. Er war zu langsam. Das Mädchen war verschwunden.
Samuel merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als Joshua zurückkehrte.
„He, was ist los. Hast du einen schlechten Tag gehabt?“, fragte er und legte seinem Freund tröstend einen Arm um die Schulter. Doch er bekam nur ein leises Knurren zur Antwort.
Dafür plapperte Naomi los, die plötzlich – als hätte sie ein starker Wind her geweht - neben den beiden stand: „Na, was wird schon los sein mit ihm?! Den ganzen Nachmittag hockt er im Park auf der Mauer herum, hat dieses Mädchen beobachtet und sie natürlich wieder nicht verstanden. Hab ich recht?“ Sie blitzte Joshua aus ihren kleinen frechen Augen an. „Ich hab doch Recht, oder?“
Für ihr vorlautes Geplapper erntete sie einen ärgerlichen Blick von Samuel. Doch Joshua sagte nichts. Er wand sich aus Samuels Umarmung und ließ die beiden einfach stehen.
„Naomi, du bist ziemlich gemein. Das gehört sich nicht, weißt du das nicht?“, schimpfte Samuel leise mit ihr.
Doch Naomi, das Engelsmädchen mit den vielen lustigen Rastazöpfen und dem langen bunten Rock zuckte nur mit den Schultern. „Was kann ich denn dafür, dass Joshua nun schon seit Monaten durch die Prüfung rasselt?“, meinte sie.
„Du musst es ihm doch nicht immer wieder unter die Nase reiben. Er weiß doch selber, dass er sich noch besser konzentrieren muss“, verteidigte Samuel seinen besten Freund.
„Und warum macht er es nicht? Die Engel aus den anderen Klassen lachen ja schon über uns.“ Naomi verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
Samuel musste zugeben, dass sie in diesem Punkt Recht hatte. Es gab so etwas wie einen Wettbewerb zwischen den Engelsklassen. Und weil Joshua immer wieder am „Menschen verstehen“ scheiterte, lag ihre Klasse auf dem letzten Platz. Denn während alle Engel der anderen Klassen viele Punkte fürs Helfen bekamen, ging Joshua – und somit seine Klasse – leer aus.
„Trotzdem könntest du ein bisschen netter zu Joshua sein. Außerdem habt ihr ihn das letzte Mal ziemlich fies abgelenkt – Raphael und du“, sagte Samuel mit Nachdruck in der Stimme.
Naomi schwieg. Denn diesmal hatte Samuel Recht.
Ein paar Tage später, gleich nach dem Unterricht, machte sich Joshua wieder auf den Weg zum Park.
Das kleine Mädchen war ihm die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf gegangen.
Was bedrückte die Kleine? Warum war sie nicht glücklich? Man konnte doch nicht traurig sein, jetzt in dieser besonderen Zeit, wo doch Weihnachten immer näher rückte. Konnte er ihr helfen? Und wie konnte er ihr helfen?
Im Park traf er das Mädchen nicht. Deshalb machte er sich nach einiger Zeit auf den Weg in die Innenstadt. Vielleicht würde das Mädchen ihm ja hier über den Weg laufen.
Er musste gar nicht lange suchen. Vielleicht war es der Zufall, der ihm dabei zur Hilfe kam. Vielleicht aber auch nicht.
Joshua lief gerade an einem Haus vorbei, in dem sich ein kleiner Obst- und Gemüseladen befand, als plötzlich Geschrei an seine Ohren drang.
„He! Du kleine elende Diebin! Bleib stehen! Hörst du nicht?“ Fast hätte das Mädchen Joshua umgerannt, als es aus dem Laden geschossen kam. Nur wenige Sekunden später sprang der ziemlich dicke Besitzer des Ladens hinterher. Joshua überlegte nicht lange. Er streckte eines seiner langen Beine aus.
„Aaargh!“ Mehr konnte der Ladenbesitzer nicht mehr sagen. Er ruderte mit den Armen und stürzte dann auf den Fußweg.
„T`schuldigung!“, stammelte Joshua schnell, dann rannte er schon davon.
„Du gehörst doch sicher auch zu der kleinen Diebin! Du Lausebengel!“, hörte er den Ladenbesitzer hinter sich keifen.
„Lause - Engel“ würde es wohl besser treffen, dachte Joshua schnell und musste sogar ein wenig dabei grinsen. Doch dann sah er vor seinem geistigen Auge Balthasars strengen Gesichtsausdruck, mit dem der Oberengel ihn am Abend sicher empfangen würde – und das Grinsen wich ihm sofort wieder aus dem Gesicht.
An der nächsten Straßenecke hatte Joshua das Mädchen eingeholt.
Schnell versteckte er sich in einem Hauseingang. Unsichtbar konnte er dem Mädchen vielleicht besser folgen. Und diesmal beeilte er sich, damit das Mädchen ihm nicht wieder entwischen konnte.
Er hatte Glück. Das Mädchen war langsamer geworden. Ab und zu drehte es sich um.
Joshua strengte sich an. Vielleicht konnte er es heute schaffen, ihre Gedanken und Gefühle zu spüren. Aber so sehr er sich anstrengte, es wollte ihm schon wieder nicht gelingen. Schließlich gab er es auf und schlug den Weg nach hause ein.
Morgen – morgen vielleicht.
Am Abend klopfte es an der Tür. Kurz darauf stand Balthasar, einer der Oberengel in Joshuas Zimmer.
Eigentlich sah Balthasar überhaupt nicht aus wie ein Oberengel. Er hatte weder einen weißen langen Bart und auch sonst sah er eher aus, wie einer seiner Schüler. Denn auch Balthasar trug am liebsten Jeans und seine buntkarierten Hemden waren überall bekannt. Und über den raspelkurzen braunen Haaren trug er meist ein aus bunter Wolle gestricktes Mützchen. Vielleicht wollte Balthasar einfach ewig jung wirken, um niemals in die Abteilung „Tod“ versetzt zu werden, in die es im Laufe der Zeit fast alle der reiferen Engel verschlug. Dieses Gerücht hielt sich jedenfalls hartnäckig unter den Engeln.
Joshua wunderte sich darüber, dass Balthasar zu ihm kam. Denn normalerweise geschah das nur, wenn er Mist gebaut hatte. Was zugegebenermaßen recht oft vorkam.
„In jedem Engel steckt auch ein Bengel“, pflegte Balthasar zu sagen. Aber an diesem Tag hatte er doch keinen Mist gebaut, mal abgesehen davon, dass er am Sturz des Ladenbesitzers beteiligt war.
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