“Kommen Sie bitte da rechts entlang, Herr Baródin; ich komme ihnen entgegen”, sagte der Filialleiter. In dem schmalen Gang rechts neben dem rechten Schalter öffnete Herr Groß die elektronische Sicherheitsverriegelung und dann die Tür mit der dicken, matten und offenbar auch schusssicheren Glasfüllung. Er begrüßte mit Handschlag den Kunden mit den Worten: “Es ist schön, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen”. “Ganz meinerseits”, erwiderte Boris, als sie auf dem Gang zum Büro des Filialleiters waren. Herr Groß gab dem Kunden den Vortritt in sein Büro, bot ihm den gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch an, schloss die mit Mattglas gefüllte Tür und nahm seinen Platz auf der andern Schreibtischseite in dem schwarzledernen, gepolsterten Schreibtischstuhl auf Rollen mit der hohen Rückenlehne und den gepolsterten Armlehnen ein.
“Was kann ich für Sie tun?” Freundlich wie geschäftstüchtig kamen die Worte des zurückgelehnten Herrn Groß, Leiter der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank über die aufgeräumte und polierte Schreibtischplatte. “Wie mir Herr Kleinert sagte, suchen Sie nach einem kurzfristigen Kredit nach, den wir ihnen prinzipiell auch gerne einräumen. Da Sie ihr laufendes Konto damit belasten wollen, weil sie den Kredit nach kurzer Zeit zurückzahlen möchten, wird die Überziehungsgrenze jedoch überschritten. Das wiederum überschreitet die Kompetenz von Herrn Kleinert, der Sie deshalb an mich verwiesen hat.” “Das verstehe ich schon”, sagte Boris mit ernstem Gesicht, “aber mir geht es garnicht um einen Kredit. Ich komme wegen einer ganz anderen Sache, die für Sie als Filialleiter wahrscheinlich viel schwieriger ist als mir aus dem Bauch der Bank einen Kredit zur Verfügung zu stellen.” “Ach so, dann kommen Sie wegen einer anderen Sache”, wiederholte Herr Groß, der nun aufrecht in seinem gepolsterten Ledersessel saß. “Ja, so ist es, und ich bitte Sie, das Gespräch als vertraulich zu betrachten”, fuhr Boris fort. “Aber das ist ja selbstverständlich”, erklärte der Filialleiter. Boris: “Die Sache ist folgende: Der junge Angestellte am Schalter, den Sie Herr Kleinert nennen, belästigt, beziehungsweise erpresst eine junge Dame, die eine Bekannte von mir ist. Die junge Frau ist eine russische Emigrantin, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik lebt. Herr Kleinert versprach, ihr diese Genehmigung zu beschaffen und sie rückwirkend auf den Tag ihrer Einreise zu datieren.” Filialleiter: “Das ist ja unglaublich. Sind Sie sicher, dass es sich hier um Herrn Kleinert handelt?” Boris: “Der Verdacht liegt auf der Hand; die junge Frau hat ihn am Schalter wiedererkannt, der sich ihr gegenüber als Rudolf ausgibt.” Filialleiter: “Das will garnicht in meinen Kopf, dass Herr Kleinert so etwas tut, der ein freundlicher und kompetenter Mann bei der Arbeit ist. Ich muss es sagen, dass Herr Kleinert einer meiner besten Mitarbeiter ist.” Boris: “Das möchte ich ihnen allzugern glauben, doch damit räumen Sie, Herr Groß, meinen Verdacht auf vorsätzlichen Betrug nicht aus. Hinzu kommt, dass dieser Herr “Rudolf” – der Filialleiter unterbrach kurz: “der Bankangestellte heißt Eberhard Kleinert” – als Gegenleistung der jungen Frau zur Auflage gemacht hat, ihn bis zur Fertigstellung der gefälschten Aufenthaltsgenehmigung mit Heroin zu versorgen, für das er nicht zu bezahlen hat.”
Filialleiter: “Das schlägt ja dem Fass den Boden aus!” Boris: “Sie sagen es! Es ist ein Fass ohne Boden. Da liegen die Folgen der Erpressung mit dem Dilemma der Bezahlungen und des Überlebens ganz offensichtlich auf der Hand. Die junge Frau, die begreiflicherweise ohne Arbeit, ich meine ohne gesetzlich erlaubte Arbeit ist, pumpt sich das Geld zusammen, um für ‘Rudolf’ den Stoff zu beschaffen. Ein junger Mann, der ein Schüler von mir ist, hat ihr bislang das Geld gegeben, um sie aus der Misere zu retten. Für die letzten beiden Lieferungen hatte auch er kein Geld mehr. Weil die Zahlungen noch ausstehen, hat der Dealer, ein skrupelloser Türke in Wedding, die junge Frau fürchterlich verprügelt, dass ich, als mir mein Schüler das berichtete, geraten habe, dass sie einen Arzt aufsuchen solle, der die Verletzungen attestiert und sie behandelt.” Filialleiter: “Das hört sich ja schlimm an. Ich kann es garnicht glauben.” Boris: “Die junge Frau hat aber Angst, weder eine Anzeige bei der Polizei zu machen, noch für das Attest und die Behandlung einen Arzt aufzusuchen, weil sie eben keine ordentlichen Papiere hat und daher befürchten muss, in das Land ihrer Herkunft abgeschoben zu werden.” Filialleiter: “Das kann ich verstehen. Aber nicht verstehen kann ich, dass es mein Mitarbeiter Eberhard Kleinert sein soll, der auf solch betrügerische Weise einen Menschen erpresst.” Boris: “Nun brauche ich ihre Hilfe, Herr Groß. Ich will der jungen Frau das Geld für die letzten Lieferungen geben, damit sie vor dem Türken ihres Lebens sicherer wird. Das reicht aber meines Erachtens nicht. Das Fass muss wieder einen Boden bekommen, wenn das Leben der jungen Frau gesichert werden soll. Denn ohne Boden im Fass lebt die Frau weiter in Angst. Ihr Leben steht ernsthaft auf dem Spiel, das die Erpresser mit ihr treiben. Wir, ich meine Sie und ich, müssen dem gefährlichen Treiben, das einer Versklavung und einem Menschenhandel gleichkommt, ein Ende setzen. Wir müssen dem Problem auf den Grund gehen, je eher, desto besser für das gefährdete Leben der jungen Frau, die dem erpresserischen Treiben hilflos ausgesetzt ist.” Filialleiter: “Was soll ich tun; was schlagen Sie vor, Herr Baródin?”
Boris: “Mein Vorschlag ist, erstens, ein Gespräch mit Herr Kleinert zu führen; zweitens, ein paar Tage bis zu diesem Gespräch verstreichen lassen, damit er keinen vorzeitigen Verdacht schöpft; drittens, eine Hausdurchsuchung zu veranlassen, wo Reste des Heroins, die gebrauchten Spritzen und Nadeln als Beweismaterial sichergestellt und forensisch untersucht werden; viertens, ein Bekenntnis, dass Herr Kleinert vorsätzlich, betrügerisch und erpresserisch an der jungen Frau gehandelt und ihr Leben dem unzumutbar hohen Risiko ausgesetzt hat; fünftens, eine eidesstattliche Versicherung, dass er ab sofort die wehrlose Frau in Ruhe lassen soll. Wenn wir das schaffen, dann bekommt das Fass einen Boden. Die Besorgung des Fassdeckels, das ist der skrupellose und brutale Türke, das wäre dann die zweite Prozedur.” Filialleiter: “Ich denke, dass wir das Drogendezernat gleich einschalten sollten. Denn spätestens schöpft Herr Kleinert den Verdacht, wenn ich mit ihm über das ernste Problem spreche. Sofort danach räumt er die Wohnung auf, entfernt die Dinge, die als Beweismaterial dienen können.” Boris: “Da stimme ich ihnen zu. Die Chance, an das Beweismaterial zu kommen, ist am größten, bevor er den ersten Verdacht schöpft.” Filialleiter: “Wenn Sie mich mit diesem Gespräch, bildlich gesprochen, auch aus dem Sessel geschmissen haben, so danke ich ihnen, Herr Baródin, für die Mitteilung, die eine für mich sehr schlechte ist und eine unmittelbare Prüfung verdient. Sollte ihr Verdacht zutreffen, dann wären die sofortige Entlassung aus der Dresdner Bank und die gerichtlichen Maßnahmen die Folgen.” Boris: “Es tut mir leid, dass ich Sie mit diesem Problem konfrontiere. Es ist aber zu schwerwiegend, als dass es verschwiegen werden kann. Ein Menschenleben steht auf dem Spiel, oder mit dem besseren Bild gesprochen, am Rande des Abgrunds.”
Filialleiter Groß machte ein ernstes Gesicht: “Da stimme ich ihnen völlig zu. Mein Vorbehalt ist lediglich der, dass es sich noch um einen Verdacht, wenn auch um einen sehr schwerwiegenden handelt. Fangen wir mit der Hausdurchsuchung an, damit wir den Verdacht am wirkungsvollsten bestätigen oder entkräften können. Ich werde Sie über das Ergebnis auf dem Laufenden halten. Ihre Telefonnummer finde ich sicherlich unter den Daten zur Personim Computer.” Boris: “Ich kann ihnen diese aber noch einmal geben. Sie ist die 3745883. Ich möchte Sie bitten, diese Nummer nicht ungeschützt auf ihrem Schreibtisch liegenzulassen, sondern, wie das ganze Gespräch, streng vertraulich zu behandeln.” Filialleiter: “Das ist selbstverständlich. Die vertrauliche Behandlung des Gespräches und ihrer Telefonnummer, das verspreche ich ihnen.” Boris verabschiedete sich nach dem fast einstündigen Gespräch über Betrug, Erpressung und das Recht des Menschen auf ein geschütztes Leben vom Leiter der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank. Herr Groß begleitete den Kunden Baródin bis zur ersten Sicherheitstür mit der matten, schusssicheren Dickglaseinfassung, die er elektronisch durch Drücken einer vierstelligen Zahl in die Zahlentafel links an der Wand öffnete, als das grüne Birnchen aufleuchtete.
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