Nachdem die beiden die Wohnung verlassen hatten, ging Boris ins Bad und betrachtete die Mandeln im Spiegel. Der Heilungsprozess hatte Fortschritte gemacht, die grauweißen Stippchen waren kleiner und weniger geworden. Das gab Auftrieb und Erleichterung, denn beim Spielen zu schwitzen und zuhusten, das konnte sich ein Pianist bei der Konzertaufführung nicht leisten. Er ging zum vollgepackten Klubtisch zurück und nahm sich den dritten Brief vor, dessen Umschlag ohne Absender, dessen Marke in Berlin gestempelt war. Boris entfaltete das Blatt, sah eine saubere Handschrift mit einigen Fehlern und begann zu lesen, das nicht ganz ohne Unbehagen:
Sehr geehrter Herr Baródin!
Ich habe Sie in einigen Konzerten gehört, zuletzt in Hannover, wo Sie Tschaikowsky vorgetragen hatten. Sie haben den Klavierpart des Konzerts großartig gespielt. Selten ist mir das Konzert so unter die Haut gegangen, wie bei Ihrem Spiel. Trotz Ihrer nicht zu leugnenden Jugend zählen Sie bereits zu den großen Pianisten der Welt. Ich bewundere Sie aufs Tiefste.
Darf ich Sie um einen Gefallen bitten. Ich habe einen Sohn, der ist zwanzig und möchte die Konzertlaufbahn einschlagen. Er ist ein begabter Junge und ein fleißiger Schüler, ist aber mit seinem Klavierlehrer nicht glücklich, der ihn über Monate mit Etüden hinhält, ohne dass da etwas Großes herauskommt.
Ich gehe davon aus, dass Ihre Zeit sehr knapp bemessen und die Liste derjenigen riesig, wenn nicht endlos ist, die von Ihnen unterrichtet werden wollen. Doch wäre ich Ihnen, sehr geehrter Herr Baródin, sehr dankbar, wenn Sie es möglich machen würden, meinem Sohn den Unterricht zu erteilen. Für ihn wäre es der große Lichtblick in seine Zukunft.
Über eine Nachricht von Ihnen würde ich mich sehr freuen.
Mit großer Bewunderung grüßt Sie
M. von Liebenau
P.s.: Anschrift: Mommsenstraße 3, Berlin-Charlottenburg, Telefon: 466 8753
“Sehr geehrte Frau Liebenau, Sie haben recht, die Liste der Anwärter, die von mir unterrichtet werden wollen, ist brechend voll bis endlos. Bitte haben Sie Verständnis, dass auch mein Tag vierundzwanzig Stunden hat, und ich noch etwas Zeit zum Essen und zum Schlafen brauche. Für Ihr Verständnis danke ich Ihnen.” Mit dieser Bemerkung faltete Boris den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und legte ihn auf den Briefturm von Bittschriften um einen Unterricht obenauf. Er setzte sich an den Flügel und begann seinen Part des zweiten Brahms-Konzerts, Opus 83. Das Spielen ging ihm gut von der Hand, und er fühlte eine erste Sicherheit im Vortrag, die er brauchte, denn die Erwartungen, die auf ihn in Warschau und in Moskau warteten, waren hoch.
Er dachte an Ilja Igorowitsch, der sich auf das Kommen seines Sohnes so sehr freut und bei der ihm gegebenen Musikalität einer brillanten Konzertaufführung entgegensieht. Boris spielte und übte, übte und spielte. Die Stunden vergingen wie im Fluge, als am Nachmittag gegen vier das Telefon klingelte. Das Klingeln störte ihn sehr. Er wollte jetzt vom Telefonieren nichts wissen, wollte das Klingeln nicht hören. So überhörte er die nächsten Klingelzeichen und blieb im Üben und Spielen bei Brahms. Das Klingeln hörte auf und setzte nach kurzer Unterbrechung wieder ein. “Verdammt nochmal, ich muss üben”, brüllte Boris verärgert zum Fenster des Arbeitsraumes. Doch die Klingelzeichen nahmen keine Rücksicht. Missmutig nahm er den Hörer ab: “Hallo?” Vom anderen Ende meldete sich Herr Groß von der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank: “Herr Baródin, guten Tag! Störe ich Sie?” Boris: “Eigentlich schon, denn ich habe zu üben. Mir stehen nur noch wenige Tage zur Verfügung. Aber wenn Sie schon dran sind…” Filialleiter: “Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe eine wichtige Nachricht. Es ist in der Sache Kleinert. Da sind doch die Fahnder bei der Wohnungsdurchsuchung fündig geworden. Damit will ich sagen, dass sich ihr Verdacht bestätigt hat.” Boris: “Da bin ich erleichtert, und die junge Frau, die er als Rudolf mit falschen Versprechungen seit Wochen erpresst, wird nicht weniger erleichtert sein.” Filialleiter: “Die Fahnder haben Herrn Kleinert zum Polizeipräsidium mitgenommen, wo er verhört wird. Für mich ist die Sache aufregend...”, Boris unterbrach: “das glaube ich ihnen sofort”, Filialleiter: “dass so ein Mann hier arbeitet ohne schon früher entlarvt zu werden.” Boris: “Herr Groß, da will ich Sie trösten. So etwas kommt auch woanders vor. Wenn diese Larven früher gefasst würden, ich meine, bevor sie sich zu gut angezogenen Leuten entpuppen und sich geschickt tarnen, wie im Falle Kleinert der Erpresser sich im freundlichen Bankangestellten im korrekten Anzug mit dem passenden Schlips versteckt, dann sähe es in unserer Gesellschaft besser aus.” Filialleiter: “Da stimme ich Ihnen hundertprozentig zu.” Boris: “Jedenfalls danke ich Ihnen für diese Mitteilung, weil Sie mir dadurch einen Stein vom Herzen nehmen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich weiter auf dem Laufenden halten würden.” Filialleiter: “Wie ich schon sagte, wird Herr Kleinert im Augenblick im Drogendezernat vernommen. Die Beamten sagten mir zu, mich über den Stand der Dinge zu unterrichten. Ich habe der Bankdirektion den peinlichen Vorfall mitgeteilt. Auf mich kommt nun die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens zu, das gründlich vorbereitet werden muss, damit eventuelle Regressansprüche, die aufgrund der fristlosen Entlassung im Raume stehen, abgewiesen werden können. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten. Bitte entschuldigen Sie die Störung, die ich mit dem Telefonat verursacht habe. Aber ich hielt es für wichtig, Sie vom Ergebnis der Durchsuchung und über den gegenwärtigen Stand der Dinge zu unterrichten.” Boris: “Es war eine wichtige Mitteilung, und ich danke Ihnen, Herr Groß, für den Anruf.” Boris legte den Hörer auf und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Viel Zeit durfte es nicht nehmen, weil er bis in den späten Abend am Konzert arbeiten wollte. So legte er zwei Eier in den kleinen Topf, der halbvoll mit Wasser war, drehte den Knopf der Kochplatte bis zur höchsten Heizstufe, um das Wasser schnell zum Sieden zu bringen. Dann schnitt er sich zwei Scheiben vom Graubrot und bestrich sie mit Butter. Er hatte Hunger, denn bis auf ein paar Kekse, die er während des Übens in den Mund gesteckt hatte, hatte er seit dem Morgen nichts gegessen. Dass er auch am Abend noch im Bademantel war, das störte ihn überhaupt nicht. In seinen Gedanken war er am zweiten Brahms-Konzert und nirgendwo anders.
Boris hatte sich pünktlich mit Notentasche und Koffer auf dem Flughafen Tempelhof eingefunden. Am Einbuchungsschalter reichte er das Ticket der Air France der hübschen jungen Frau hinter dem Schalter, die aus großen, dunklen Olivaugen charmant über den Tresen herüber lächelte. Er stellte den Koffer auf die Waage, das Gewicht stimmte, der Koffer glitt auf dem Fließband fort und verschwand hinter einer geteilten Gummilasche. Die charmante junge Frau riss das oberste Blatt aus dem Ticketheft und reichte ihm die Bordkarte mit der Nummer elf der ‘Business class’ und wünschte ihm einen guten Flug. Es war noch Zeit, dass Boris die Duty-free-shops aufsuchte und sich die Auslagen ansah. Er suchte nach einer Armbanduhr, weil seine, die er gut fünf Jahre trug, den Geist, den Sekundenzeiger zu bewegen, aufgegeben hatte. Auch wenn keine Verkaufssteuer in den Geschäften des Flughafens erhoben wurden, waren die Preise doch höher als erhofft. Boris kaufte eine Swatch mit Lederarmband zum passenderen Preis und machte sie über dem linken Handgelenk fest. Der Flug nach Warschau mit Flugnummer und Abflugszeit wurde durch den Lautsprecher ausgerufen. Die Passagiere wurden gebeten, sich bereitzuhalten. Boris ging mit der Notentasche unterm Arm, der Bordkarte und dem Reisepass in der Hand zum Schalter der Ausweiskontrolle. Der Beamte blätterte im Reisepass, verglich das Kopffoto mit dem Gesicht des Passträgers, prüfte die Gültigkeit des Passes und drückte den Stempel ein. Er schaute nach dem Pass des nächsten Passagiers, als er Boris den Pass zurückgab.
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