Boris legte den Hörer auf, trank den kalt gewordenen chinesischen Kräutertee, ging ins Badezimmer, stellte sich vor den Spiegel und betrachtete die vergrößerten Mandeln im weit geöffneten Mund. Ihm schien, dass die Schwellung im Rückgang war und die hässlichen, grauweißen Stippchen weder zahlreicher noch größer geworden waren. Der Beginn einer Besserung nahm dem Sorgenberg die Kuppe. Er fühlte sich erleichtert, auch deshalb, weil er weniger schwitzte als in den vergangenen Tagen und Nächten. Boris setzte sich an den Flügel und begann das zweite Brahms-Konzert von vorn. Es lief wie am Schnürchen. Das erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit und Freude. Beim Spielen sah er sich im Geiste von den philharmonischen Orchestern in Warschau und Moskau umringt. Er vergaß die Begebenheiten des Tages, versenkte sich in die Tonwelt und ging bis zu den Zehenspitzen in ihr auf. Aus Gründen der Rücksicht auf die anderen Hausmieter hörte er nach zehn mit dem Klavierspiel auf und setzte sich mit der Partitur in die schmale Klubecke, um dort das Lesestudium fortzusetzen. Es war fast Mitternacht, als er die nächste Penicillin-Tablette in den Mund steckte, mit einem Glas Wasser runterspülte und ins Bett ging.
Es war Samstagmorgen. Der Wecker klingelte um acht über dem Notenstapel von Bach’s ‘Wohltemperiertes Klavier’, Schumann’s ‘Kinderszenen’, Mendelssohn Bartholdy’s ‘Lieder ohne Worte’ und Schubert’s ‘Impromptus’. Boris hatte eine bessere Nacht ohne die gefürchtete Schwitz- und Traumorgie, dass er als Pianist jämmerlich versagt habe, hinter sich. Er schlug die Quecksilbersäule im Thermometer herunter und maß die Temperatur, die zu seiner großen Erleichterung unter achtunddreißig, genau siebenunddreißigsechs war. Vor dem Spiegel im Bad registrierte er mit Erleichterung, dass die Rötung und Schwellung der Mandeln zurückging. Er rasierte sich, lachte sich im Spiegel an, summte den Anfang des Konzertes unter der Brause, stieg nass aus der Schüssel und trocknete sich gut gelaunt ab, wobei er die Haut rot frottierte. Er zog sich den Bademantel über und machte sich das Frühstück in der Küche, das er dann in der schmalen Klubecke einnahm. Auch war das Schlucken weniger beschwerlich als die Tage zuvor. Das gab ihm den Auftrieb, den er zum Üben dringend brauchte. Das Frühstücken ging in mehreren Partien vor sich, zwischen denen er am Flügel saß und am Konzert übte.
Es klingelte an der Tür. Da keiner vor ihr stand, drückte er den Öffner der Haustür. “Post!”, rief der Briefträger. Boris hörte das dumpfe Gleitgeräusch, wenn Briefe und Zeitungen durch den Schlitz in den Briefkasten geschoben werden. Er ging herunter und holte die Postsendung aus dem Kasten. Es waren Briefe, einer von seinem Agenten in Berlin, ein anderer, dem eine Reihe politisch symbolträchtiger Marken der UdSSR aufgeklebt waren, von seinem Vater Ilja Igorowitsch Tscherebilski und ein dritter ohne Absender, der in Berlin abgestempelt war. Dazu gab es die ‘Berliner Morgenpost’, die Boris seit einem Jahr abonniert hatte. Beim Treppensteigen nahm er einen Blick auf die Titelseite der Zeitung, wo das unmenschliche Mauermonstrum abgebildet war, worunter die Frage in großen Lettern stand: “Wie viele Menschen sollen dem Schießbefehl noch zum Opfer fallen?” Der Artikel befasste sich mit dem tödlichen Fluchtversuch eines achtundzwanzigjährigen DDR’lers, der auf der Mauer angeschossen wurde und auf der Westberliner Seite verblutete. Einer von vielen Fällen, bei dem die Flucht in den Westen mit dem Tod endete, weil der Schießbefehl auf Ostberliner Seite rigoros eingehalten wurde und jede Hilfe auf dem Boden der Freiheit zu spät kam. Boris war froh und dankbar, dass Mutter und er noch wenige Wochen vor Errichtung des unmenschlichen Betonmonsters die Abhörrepublik mit dem sozialistischen Volkskerker hinter sich gelassen haben. Für ihn war es unfassbar, dass Menschen wie Schwerverbrecher betrachtet, behandelt und erschossen wurden, weil sie es unter dem roten Terror der angeblichen Brüderlichkeit mit der Rund-um-die-Uhr-Bespitzelung, die bis in die Familien reichte, den gefürchteten Verhören, den Schauprozessen mit den falschen Anschuldigungen und den lähmend hohen Zuchthausstrafen nicht mehr aushielten.
Wie lange dieses Unrecht das Siebzehnmillionenvolk ertragen sollte, das stand allerdings in den Sternen, vor allem dem großen, roten Fünfzacksowjetstern. Boris schob die Wohnungstür leise und nachdenklich ins Schloss, ging zur Klubecke, legte die Zeitung auf die offenen, übereinanderliegenden Partituren und widmete sich den Briefen. Er öffnete sie mit dem Kugelschreiber und zog als erstes das Schreiben seines Agenten Berthold Graf heraus. Er teilte mit, dass der Flug nach Warschau und nach Moskau in der Business-Klasse gebucht sei. Der Flug nach Warschau gehe mit Air France vom Flughafen Tempelhof ab. Den Flug von Warschau nach Moskau übernehme die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot. Die Flugkarten liegen zum Abholen im Büro bereit. Auch seien die Hotelreservierungen vorgenommen worden. “Alles läuft nach Plan. Mit freundlichen Grüßen B. Graf, Konzertagent.”
Boris dachte sich seinen Teil und sagte zu sich, dass bei ihm nicht alles nach Plan laufe, weil der Infekt mit den lästigen Hustenanfällen und die eitrige Tonsillitis dazugekommen seien. “Wie kann ein Agent nur so etwas behaupten? Das kann er nur, wenn er sich nicht informiert, sich nicht gründlich um den Pianisten kümmert, was in den Aufgabenbereich des Konzertagenten fällt.” Boris legte mit dem Gefühl der Missbilligung das Schreiben auf den kleinen Klubtisch, genauer gesagt auf die aufgeschlagene Partitur der dritten Polonaise von Frédéric Chopin. Nun wandte sich Boris dem Brief seines Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem ersten Bautzener Stadtkommandanten nach Beendigung des Krieges, zu. Boris sah sich den Umschlag von vorn und hinten an, bewunderte seine akkurate und doch ausdruckvolle Handschrift, die vorn mit lateinischen und hinten mit kyrillischen Buchstaben gut zu lesen war. Beim Herausziehen des Blattes aus dem Umschlag dankte er dem Vater für seine Liebe und Fürsorge, für das Gute, das er dem Sohn gegeben, zu seiner Bildung beigetragen und in ihm musikalisch geweckt hatte. Wie der Umschlag, so der Brief; ausdrucksvoll stach die Handschrift im fehlerfreien Deutsch ins Auge:
Moskau, den 17. April 1974
Boris, mein lieber Sohn!
Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, Dich nach den Jahren Deines letzten Konzertes wiederzusehen und zu hören. Ich kann es nicht abwarten und zähle die Tage. Es ist ein schwer zu spielendes Konzert, das zweite Brahms-Konzert. Doch Du wirst es meistern bei Deiner großen musikalischen Begabung und virtuosen Fingerfertigkeit. Du wirst vom besten Orchester begleitet, das es derzeit in der UdSSR gibt, nämlich den Moskauer Philharmonikern, denen weltberühmte Dirigenten, wie Leonard Bernstein, Sir Georg Solti und manch andere vorgestanden haben. Diesmal ist es Igor Sergej Majakowski, ein noch junger, aber großartiger Dirigent. Er ist ein Nachfahre des berühmten russischen Dichters Wladimir Majakowski. Du erinnerst Dich sicher an seine wunderbaren Gedichte. Ich hatte Dir vor Jahren einen Band seiner Gedichte geschickt. Igor Sergej ist ein genialer Musiker, ein Tongestalter, wenn er vor den Philharmonikern steht. Er beherrscht die Partitur aus dem ‘ff’, was ihn dynamisch, höchst einfühlsam und stark macht, weil er beim Dirigieren nicht zu lesen braucht. Das Notengebäude hat Igor Sergej bis ins letzte Detail im Kopf. Du wirst von ihm und seiner nachschöpferischen Kraft begeistert sein. Von den Philharmonikern brauche ich Dir ja nicht erzählen,weil Du sie bereits besser kennst als ich. Du wirst mir zustimmen, dass sie großartige Musiker sind, wie sie anderswo ihresgleichen suchen lassen.
Wie geht es Anna Friederike? Oft denke ich an die Bautzener Zeit zurück, an die musikalischen “Ausflüge” auf dem herrlich klingenden Förster-Flügel. Die ersten Jahre nach dem Kriege waren zwar schwer für die Menschen, doch haben sie auch große Dinge hervorgebracht, die für mich unvergesslich bleiben. Grüße bitte Deine Mutter herzlich von mir. Wie gesagt, ich freue mich riesig auf Dein Kommen.
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