„Oh Mann, du hast mich ganz neugierig gemacht. Das nächste Mal komme ich mit!“
Mariella war aufgesprungen und lief hin und her.
„Ich helfe dir!“
„Das geht nicht, das kann ich nicht verlangen.“
„Doch! Und weißt du was? Wir gehen heute Nacht nochmal hin. Zusammen ist es weniger gruselig und wenn dein Typ auftaucht, verschwinde ich. Dann fällst du in Ohnmacht und er kniet sich zu dir und …“
„Mariella, jetzt geht die Fantasie mit dir durch. Wer weiß, falls ich es mir doch nur eingebildet habe, sehen wir niemanden.“
„Den anderen sicher. Wenn er öfter dort laufen geht. Und du sagtest, er sieht gut aus.“
„Linus kann ich dir auch in der Uni vorstellen, dazu brauchen wir nicht nachts durch den Park zu rennen.“
„Da sage ich nicht nein. Ich hole dich morgen ab, ich habe nämlich frei, dann suchen wir ihn.“
Kira seufzte. Mariella würde nicht lockerlassen, bis sie alles wusste, aber es fühlte sich auch gut an, eine Verbündete zu haben. Gegen elf Uhr machte sich Kira auf den Heimweg. Es hatte sie eine halbe Stunde Zeit gekostet, um Mariella davon abzuhalten, sie zu begleiten. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als sie vor ihrem Haus in Richtung Park sah. Der Wind hatte aufgefrischt und die Bäume warfen gespenstische Schatten auf die Wege.
Wie von einer magischen Kraft angezogen, ging Kira hinüber und drückte das schmiedeeiserne Tor auf. Sie hörte das Knirschen von Kies unter ihren Füßen, als sie den Weg in Richtung Uni lief. Ihr war kalt und sie war müde, doch eine innere Unruhe trieb sie weiter. War dort nicht eine Bewegung?
Sie lief neben dem Weg weiter und jetzt hörte man nur noch den Wind, der kräftig an den nackten Zweigen zerrte. Plötzlich hörte sie Stimmen und versteckte sich hinter dem Stamm einer dicken Buche.
„Nein, es ist nicht richtig. Du weißt, was zu tun ist.“
Die Stimme gehörte zu einer Frau, die eine dicke Winterjacke trug und die Kapuze aufgesetzt hatte. Der Mann, mit dem sie redete, war Linus. Er war wieder in Sportkleidung unterwegs. War das seine Freundin?
„Ich kann nicht, da ist eine Stimme in mir, die mir sagt, dass ich es lassen soll.“
„Ach was, sie ist wichtig, du musst es tun.“
„Nein, schlag dir das aus dem Kopf. Ich will zuerst die Rothaarige.“
Kira zuckte zusammen. Über wen sprach Linus? Über Mariella? Sie schüttelte sich, denn das konnte nicht sein. Außerdem gab es nicht nur eine rothaarige Frau auf der Welt. Dann lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken, denn Linus schaute genau in ihre Richtung.
Er wollte gerade auf sie zugehen, da blitzte es eisblau zwischen den Bäumen. Die Frau schrie kurz auf und rannte in Richtung Uni davon. Linus blieb stehen und straffte sich. Aus einem blauen Nebel löste sich eine schwarzgekleidete Gestalt und ging mit festen Schritten auf ihn zu.
Kira hielt die Luft an und überlegte, ob sie weglaufen sollte, doch sie konnte sich nicht bewegen. Ihr Herz tat plötzlich weh vor Sehnsucht. Das konnte nur eines bedeuten: Der Mann, der aus dem Nebel gekommen war, war ER. Sie presste sich mit aller Kraft an den Baum, um nicht gesehen zu werden. Es war kein Fünkchen Angst in ihr, nur Aufregung und eine unbeschreibliche Energie, die sie noch nie wahrgenommen hatte.
Linus sagte laut: „Was willst du hier?“
„Das gleiche könnte ich dich fragen. Suchst du ein neues Opfer? Suchst du nach ihr?“
„Opfer? Nach ihr? Wovon redest du?“
„Das weißt du ganz genau! Ich bin mir sicher, dass die entführten Menschen der letzten Zeit auf euer Konto gehen.“
Er stand jetzt direkt vor Linus und eisblauer Nebel hüllte beide ein.
„Lächerlich!“
Jetzt stieß der Mann Linus vor die Brust, aber er bewegte sich nicht von der Stelle.
„Du hast sie schon einmal angegriffen. Wage es nicht, ihr nochmal zu nahezukommen.“
Linus lachte, aber es war ein hässliches Lachen.
„Du wirst sie nicht retten können. Ich habe gleich geahnt, dass sie zu dir gehört, doch du kannst nicht immer bei ihr sein. Vergiss das nicht! Aber erstmal hole ich mir die Feuerbraut.“
Der Nebel wurde schwarz, er begann sich wie ein Tornado zu drehen und Kira konnte nichts mehr erkennen. Was passierte hier?
Eine Minute später war der Spuk vorbei und sie stand allein im Park. Wer war die Frau? Woher kannte Linus den Mann mit den eisblauen Augen?
Aus der Ferne hörte sie ein Flüstern: „Kira … Kira, geh fort von hier … du bist in Gefahr …“
Die Stimme wurde eins mit dem Rauschen des Windes und alles schien wie ein irrer Traum. Jetzt dachte sie an das Wort Feuerbraut, die Frau, die Linus sich holen wollte. Sie spürte die Gefahr, die von ihm ausging, aber gleichzeitig hatte sie wieder die Verbindung gefühlt. Verwirrt machte sie sich auf den Heimweg und jetzt war es die Kälte, die sie zittern ließ. Es war zwei Uhr, als sie in ihrer Wohnung stand.
„Wohin ist die Zeit gegangen? Wer bist du?“
Sie schaute aus dem Fenster in die schwarze Nacht und ihr Herz klopfte laut. Sie horchte in sich hinein, aber sie hatte keine Angst mehr, seit sie IHN gesehen hatte. Irgendwie wusste sie, dass alles einen tieferen Zusammenhang hatte, den sie unbedingt entschlüsseln musste. Und sie würde Linus morgen suchen und zur Rede stellen. Mariella freut sich bestimmt, dachte sie und ging ins Bett. Entschlossen, das Rätsel zu lösen, schlief sie ein.
Am nächsten Morgen war Kira sich nicht mehr sicher, ob das Erlebnis im Park real gewesen war. Sie reckte und streckte sich, schlüpfte aus dem Bett und war eine Stunde später auf dem Weg in die Uni. Es war noch früh, aber sie war wach und fühlte sich frisch und voller Elan.
Die kalte Luft kroch in Kiras Nase und streichelte ihre Wangen, als sie mit raschen Schritten durch den Park lief. Der Dunst, der von ihren Lippen aufstieg, erinnerte sie an den schwarzen und blauen Nebel, der die beiden Männer umgeben hatte. Und ja, es war real gewesen, Kira sah die beiden jetzt wieder vor sich. Ihr hitziges Gespräch hatte sich um eine Frau gedreht. Es klang, als hätte der Mann mit den eisblauen Augen eine Freundin oder Frau, die er beschützen musste. Darum hatte ihr auf dem Rückweg in ihre Wohnung auch das Herz so wehgetan. So würde sie ihn niemals kennenlernen. Und wer war die Feuerbraut, von der Linus gesprochen hatte? Sie würde ihn heute fragen.
Sie brachte in der Bibliothek ein Buch zurück, gab zwei Stunden dem Porträt von Mariella den letzten Feinschliff und besuchte eine Vorlesung in Kunstgeschichte. Dann fieberte sie dem Treffen mit ihrer Freundin entgegen. Auf dem Flur war ihr niemand Bekanntes begegnet, auch Linus hatte sich nirgends blicken lassen. Gedankenversunken kramte sie in ihrer Tasche und sah auf ihr Handy, als sie aus dem Hörsaal trat. Wie groß war Kiras Schreck, als sie mit jemandem zusammenstieß, dessen Bücherstapel auf den Boden rutschte.
„Mann, pass doch auf!“, fuhr der junge Mann sie an.
Als sie aufschaute und eine Entschuldigung stotterte, sah sie in seine Augen, die böse funkelten. Plötzlich schien sich sein Ausdruck zu verändern. Er starrte sie an und war blass geworden.
„Tut mir leid, dass ich dich angefaucht habe, es war nicht fair. Schließlich bin ich in dich reingelaufen.“
Seine Stimme berührte Kiras Herz voller Wärme, doch als sie etwas erwidern wollte, raffte er die Bücher zusammen und lief davon. Sie sah ihm nach und zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Das ist Alexandro, der ist ein bisschen verpeilt, meine Liebe“, hörte sie Linus sagen.
Sie fuhr herum und erkannte hinter ihm die junge Frau von gestern Nacht.
„Beeil dich, Linus, die Vorlesung fängt gleich an“, sagte sie unfreundlich.
„Geh schon vor, Lima, ich komme sofort.“
Die junge Frau zog die Augenbrauen hoch und ging mit erhobenem Kopf an ihnen vorbei. Linus achtete nicht weiter auf sie. Er hatte seine Hand noch nicht von Kiras Schulter genommen und jetzt schob sie sie weg.
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